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Milestones: John Coltrane: „Ascension“ (1965)

Am 28. Juni 1965 wurde das Rudy-Van-Gelder-Studio in Englewood Cliffs, New Jersey, von einer klanglichen Energie sondergleichen erfüllt. Allein schon die Liste der elf beteiligten Musiker liest sich aus heutiger Sicht wie eine All-Star-Besetzung.

Pianist McCoy Tyner, Kontrabassist Jimmy Garrison und Schlagzeuger Elvin Jones stellten die Rhythmusgruppe, zu der Art Davis als zweiter Bassist stieß. Dewey Johnson und Freddie Hubbard spielten Trompete, und Archie Shepp, Pharoah Sanders, Marion Brown und John Tchicai brachten ihre Saxofone mit, um einem 38-jährigen Kollegen zur Seite zu stehen, der zu einer durchaus auch religiös konnotierten „Himmelfahrt“ aufzubrechen gedachte: John Coltrane hatte zur „Ascension“ geladen.

„Ascension“ besteht aus einer einzigen, pausenlosen, knapp 40-minütigen Improvisation. Der Wechsel von Ensemble- und Solo-Passagen prägt die formale Struktur, insgesamt aber erklingt hier eine kompromisslos freie Musik – die zugleich tief im Blues und in alten Formen des Jazz verwurzelt ist. Archie Shepp meinte, was Coltrane hier gemacht habe, gehe bis zum New-Orleans-Jazz zurück, in dem auch schon kollektiv improvisiert wurde, aber die Idee des kompakten Gruppenklangs essenziell war. Weiters ist diese Aufnahme von einer spirituellen Kraft getragen, die die klangliche Radikalität mit großer Wärme erfüllt. Marion Brown im LP-Text: „You could use this record to heat up the apartment on those cold winter days.“ „Ascension“, schreibt Colin Fleming im Jahr 2021 im Magazin „Jazztimes“, sei gnadenlos und doch, paradoxerweise, mit genau dieser Qualität, der Gnade, aufgeladen.

Der Jazz war in den frühen 1960er Jahren bereits „frei“ geworden. Pionierhafte Aufnahmen wie die 1961 veröffentlichte Platte „Free Jazz – A Collective Improvisation“ von Ornette Coleman hatten den Boden bereitet. „Ascension“ gilt als ein Höhepunkt des orchestralen Free Jazz. Und ganz gewiss als eine der aufregendsten Platten, die jemals produziert wurden. Ein musikalisches Himmelfahrtskommando, das drei Tage nach Christi Himmelfahrt wieder einmal in voller Pracht erklingen soll.



© Ö1 Milestones, 29.5.2022

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