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SZ: Jazzalben des Jahres – Aus der Bahn geraten von Andrian Kreye

Ein Rückblick auf das vergangene Jazzjahr, mit zwei Phänomenen und einer willkürlichen Top 20-Liste.

Eigentlich steht hier kurz vor Silvester nur eine Liste der sehr persönlich meistgehörten Jazzalben des vergangenen Jahres. Aber wenn es schon mal ein Phänomen gibt, muss das vorher auftauchen. Kern einer neuen Welle der ungewohnten Klänge im Jazz war der Überraschungserfolg des Mammutwerks „Promises“ (Luaka Bop), das der Coltrane-Weggefährte und Brachialsaxofonist Pharoah Sanders mit dem Elektronik-Produzenten Floating Points und dem London Symphony Orchestra in neun zusammenhängenden Sätzen eingespielt hat. Das Album traf sehr buchstäblich den Nerv der Welt. Die Ruhe, die sie da mit einem zauberhaften Akkord als Grundmotiv, hauchzarten Saxofonfragmenten und Wohlklängflächen erzeugten, war die perfekte Entschleunigung auf einem Planeten, den Pandemie, Klima- und Wirtschaftskrisen aus der Bahn geworfen haben.



Deswegen rückte im Kielwasser gleich ein ganzer Stapel Alben in den Blick, den das amerikanische Kritikerportal Pitchfork mangels Genre-Grenzen als „Ambient Jazz“ etikettierte. Auch wenn beispielsweise Esperanza Spaldings wissenschaftliche Suche nach der Heilkraft der Musik auf ihrem Album „Songwrights Apothecary Lab“ streckenweise eher an die Musik von Joni Mitchell erinnert. Oder die Neuabmischung von Alice Coltranes Ashram-Gesängen „Kirtan: Turiya Sings“ (Impulse) letztlich eine Meditation in Sanskrit über spartanischen Orgelakkorden ist, die vor allem der Entrückung dient. Alice Coltranes Geist schwebt auch über den Spiritual-Jazz-Anleihen der jüngeren Generation, vor allem bei der momentanen Renaissance der Harfe im Jazz. Da gab es wirklich grandiose neue Alben von Brandee Younger (tief im R’n’B verwurzelt), Amanda Whiting (als Zentrum eines traditionellen Post-Bop-Trios) und Nala Sinephro (noch am ehesten im Ambient-Raum). Das erstaunlichste Harfen-Album aber war „Nanodiamond“ von der Elektroproduzentin und Harfenistin Sissi Rada. Die bewegt sich sehr souverän zwischen den jüngsten minimalistischen Strömungen des zeitgenössischen Pop, freiem Jazz und dem, was Brian Eno als Ambient etablierte. Der ist auch Fan und produzierte ihr einen Song. Das klingt alles in allem wunderbar ungewohnt und neu. Deswegen passt das Album auch so hervorragend ins Programm von Mathias Modicas Kryptox-Label, das sich aufgemacht hat, europäischen Jazz zu verlegen, der sich den gängigen Strömungen entzieht und als einzigen roten Faden das Ostinato gelten lässt, wie man auf dem Sampler „Kraut Jazz Futurism Vol. 2“ nachhören kann.




© Süddeutsche Zeitung, Kultur, 27.12.2021

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