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Uraufführung in Dresden: Christfried Schmidts 2. Sinfonie „Produktivität der Verzweiflung“

Die Uraufführung von Christfried Schmidts 2. Sinfonie durch die Dresdner Philharmonie ist eine mutige Großtat. Werden ihr weitere folgen? Von Gerald Felber.

Welch eine ungeheuerliche Musik! Im ersten Satz von Christfried Schmidts 2. Sinfonie ringen und quälen sich die Klänge, knirschend oder eruptiv aufbrüllend, wie unter Bleigewichten und zäh lastenden Magmamassen erstickt: brutale Ballungen schwarzer Energie, Bilder einer in sich selbst verbissenen und verklammerten, zum Rand der Unerträglichkeit hin potenzierten Verzweiflung.

Was so beginnt, ist das fiebrige, freiheitssüchtige und in seiner Gewaltsamkeit jedes konventionelle Maß verlassende Zeit-Nacherleben eines Mittdreißigers im Jahre 1968: erschüttert von der Ermordung Martin Luther Kings, dem das Werk gewidmet ist, Zeuge aber auch der Erdrosselung des Prager Frühlings im gleichen Jahr, der Regressionen in Ost wie West. Das Stück wäre damals in jeder Musikszene ein scharf schneidender und aufreibender Fremdkörper gewesen; doch da, wo es real geschrieben wurde – Quedlinburg am Harz, selbst für DDR-Verhältnisse tiefe Provinz abseits fast aller Entwicklungs- oder auch nur Diskursmöglichkeiten –, grenzte seine Entstehung ans Absurde.


Das komplette Konzert wird es hier zum Nachhören geben!


Und damit ans Wunderbare, weil ja auch jedes wirkliche Wunder eine Absurdität ist. Nun, mehr als ein halbes Jahrhundert später, zeigte sich bei der späten Uraufführung, dass nichts vom Gemeinten verloren ist. Wie sich eine wütend widerständige Energie gegen den Würgegriff unüberwindlich scheinender, versteinerter Verhältnisse stemmt, wird hier zu einem Fanal des Nicht-Aufgebens: weder der eigenen Integrität noch der Welt. Der Weg dahin ist lang. Das zentrale Lamento (unter Einbeziehung zweier in elegisch klagenden Vokalisen ausgebreiteter Gesangsstimmen) bringt Trauer und Verlorenheit – eine Verinnerlichung, die zwar nicht in ihrer emotionalen Tiefe, wohl aber, nach dem bis zur Kernschmelze komprimierten Eröffnungssatz, hörpsychologisch einen gewissen Spannungsabfall darstellt, ehe dann die letzten Minuten der Sinfonie die energetische Wucht des Werkanfangs zurückholen, nun in einer grell gleißenden und wiederum bis an den Rand des physischen Zerreißens geführten Ausbruchsvision, einer Art auskomponierter Supernova.

Sinfonie ohne Auftrag und ohne die Chance einer Aufführung

Der als Kirchenmusiker ausgebildete Schmidt, der sich damals und danach noch weitere zwölf Jahre mit Klavierstunden und Chorleitungen im Künstler-Prekariat durchschlug, schrieb die mit einer annähernden Mahler-Besetzung orchestrierte Sinfonie ohne Auftrag und ohne die Chance einer Aufführung. Dass er sie jetzt, 53 Jahre später und inzwischen achtundachtzigjährig, im Dresdner Kulturpalast noch miterleben durfte, ist dem Erlebnis einer anderen engagierten Entdeckung aus dem Konvolut damals liegengebliebener Stücke zu danken: der seiner Markus-Passion vor zweieinhalb Jahren in Berlin (F.A.Z. vom 25. April 2019). Jens Schubbe, Dramaturg der Dresdner Philharmonie, fand damals in Schmidts wild ausfahrender Emotionalität den Kristallisationskeim zur Idee eines konzentrierten Exkurses in das deutsche Komponieren auf beiden Seiten der Mauer. Coronabedingt um ein Jahr verschoben, fand er nun, verteilt auf drei Konzerte und zwei Filmveranstaltungen, am Wochenende des Tages der Einheit statt – ein an- und aufregendes Panorama. Von Paul Dessau bis zu Wolfgang Rihm und Steffen Schleiermacher reichte die Spannweite – Letzterer war, im temperament- und geistvollen Klavier- und Poesieduo mit dem Schauspieler Erik Brünner, auch selbst vor Ort.

Das direkte Gegenstück zu Christfried Schmidts monumentalem Ausbruch indes war die noch auswegloser tragische und illusionslose „Ekklesiastische Aktion“ Bernd Alois Zimmermanns von 1970, jener ultimative künstlerische Schlusspunkt des verzweifelten Künstlers, dem fünf Tage nach seiner Vollendung die existenzielle, suizidale Konsequenz folgte. Nicht nur die beiden Großwerke liegen zeitlich nahe beieinander; auch die Geburtsjahre der Komponisten (Zimmermann 1918, Schmidt 1932) sind sich recht nahe. Doch dieser geringe „Vorsprung“ des kriegstraumatisierten Rheinländers vor dem Niederschlesier bedingte, dass der eine schon ausgeleert war, als der Jüngere sich erst, mit fortan unbeirrbarem Eigenwillen, seinen freilich ungeheuer mühsamen Weg zu bahnen begann. Die Sentenz „Weh dem, der allein ist“ – Kernsatz der Zimmermannschen „Aktion“ – trifft dennoch, in unterschiedlichen Ausformungen, beide Lebensläufe wie beide an diesem Abend zusammen erklingende Werke. Im verfremdenden Adaptieren amerikanischer Spiritual-Intonationen konnte man überdies sogar eine formelle Gemeinsamkeit finden. Nur geht Zimmermann, der Erfahrenere und gleichsam Zu-Ende-Komponierte, ungleich ökonomischer an seine bittere Bilanz.

Rot-schwarze Klangfeuerzungen züngeln

Jonathan Stockhammer aber, der die Dresdner Philharmonie mit einer geradezu kristallinen Durchsicht führte, hatte für diese Töne scharf unerbittlicher, eisig illusionsloser Klarheit das gleiche intellektuelle Sensorium wie für die düster rotschwarzen oder versehrend überhellen Klang-Feuerzungen Schmidts. Er leitete an diesem Wochenende zudem noch eine weitere Komposition, die man fast als Abschiedswerk hören konnte, denn auch Friedrich Goldmann überlebte sein 2007 geschriebenes, mit einem Motiv der Bachschen Matthäus-Passion arbeitendes „Ensemblekonzert III“ nur um knapp zwei Jahre.

Eine wieder andere Art des Abgehens, wenn sich da fragil elegante Gesten in eine große Ermüdung hin auflösen – auch das mit glaubwürdigem Nachdruck und einem ausgeprägten Gefühl für die kompositorischen Individualitäten vermittelt und in allen Fällen getragen von einem Musikerkollektiv, dem man die Freude ansah, sich in solchen nicht alltäglichen Räumen zu tummeln und zu engagieren. Der emphatische Bariton Robert Koller, bei Schmidt wie Zimmermann zugange, bei Letzterem außerdem die beiden prägnanten Bibel- und Dostojewski-Sprecher Peter Schweiger und Helmut Vogel: Sie mögen hier für die weiteren Mitwirkenden eines herausfordernden Wochenendes stehen, das eine große Tat war – und hoffentlich nicht die letzte. Es gibt noch genügend zu entdecken an verdrängten Kompositionen.


© FAZ, Feuilleton, 6.10.2021

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