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Hörspiel des Monats April 2024: Der Stein in der Tasche

Von Alexander Kluge. Wer oder was sind wir Menschen? Worauf können wir uns berufen – wenn nicht auf Krieg und Konfrontation? Der Versuch einer Rückbesinnung auf das, was uns ausmacht. Und wenn es dafür 20.000 Jahre in die Vergangenheit geht, zu unseren biologischen Vorfahren.

Das Hörspiel wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zum Hörspiel des Monats April 2024 gekürt.


Alexander Kluge nimmt uns mit auf eine weitläufige Gedankenreise, die makrokosmische Dimensionen mit mikrokosmischen verknüpft. So zoomt er von der Unermesslichkeit des physikalischen Universums zur Brüchigkeit der deklarierten Universalität menschlicher Grundwerte in der Aufklärung. Er zeichnet die Entwicklung der Menschheit vom Amphibischen zum Homo sapiens nach. Er führt diesen in seiner nomadischen Frühphase vor, in kleinen Gruppen durch die Eiszeitsteppe stressend, bedroht und immer auf Nahrungssuche. Und er konfrontiert ihn mit dem modernen Menschen der Sesshaftigkeit, der „aggressiv ist bis auf die Knochen“. Er wagt den Schritt von der Anthropologie zur eigenen Biografie und zum Kindheitserlebnis des Bombardements seiner Geburtsstadt in den letzten Kriegsmonaten 1945. Es kommen WissenschaftlerInnen zu Wort, die mit exakten Daten und präzisen Hypothesen gewährleisten, dass sich die Reflexionen an Fakten abarbeiten und so im Konkreten bleiben. Aber natürlich kehren die Exkursionen von Astrophysik und Paläontologie stets in die abendländische Geschichte und Perspektive zurück. In anderen Kulturräumen würden zumindest die historischen Assoziationsketten anders aussehen und anmuten.

Der aktuelle Anlass zu all dem? – Die mentale Situation der Zeit mit ihren Rückgriffen auf Mythen nationaler Größe, religiöser Wahrheiten und ideologischer Ausschließlichkeit, die uns erneut Kriege einbrocken und viel Leben kosten. Und das eindringliche Anliegen: Krieg zu beenden und zu vermeiden. Kluge „weiß ganz genau, dass hier weder zynische Realpolitik die Antwort ist, aber unzynische Realpolitik wiederum richtig.“ Allerdings lässt er in uns die Frage aufkommen, wo die Trennlinie zwischen einer unzynischen, also friedensfördernden, Politik und einem suizidalen Pazifismus liegt, wo die Grenze zwischen Paranoia und realer Gefahr. (…) Der Autor bekennt sich in einem seiner Statements zu Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, die uns lehrt, dass die Mythen nicht so ursprünglich sind, wie sie sich geben, und die Aufklärung nicht so mythenbefreit, wie sie sich wähnt. Beide bilden bis heute ein Dickicht, durch das wir uns schlagen müssen, um zu einer eigenen Klarheit zu kommen. Mit Kluges Einzelbefunden müssen wir gar nicht immer einverstanden sein. Aber sein Hörspiel ist Sprungbrett und Verlockung, einen Moment lang vom Strom des politischen Alltags abzuheben und in größerem Rahmen Übersicht zu gewinnen. Darum hat die Jury „Der Stein in der Tasche“ zum Hörspiel des Monats April 2024 gewählt.



Der Stein in der Tasche
Von Alexander Kluge
Mit Alexander Kluge, Karl Bruckmaier, Katja Bürkle, Helga Fellerer, Johannes Herrschmann, Stefan Merki, Meinhard Prill sowie Oskar Negt, Hannelore Hoger, Sandra Hüller und Monika Manz
Komposition: mapstation
Minuten Song: Ariel Sharat und Mathias Kom
Bearbeitung und Regie: Karl Bruckmaier
Produktion: BR 2024

© Deutschlandfunk, Hörspiel, 6.7.2024

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