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„Die Stimme hinter dem Vorhang“ Hörspiel von Gottfried Benn

„Radio ist sehr gegen meine Neigung. Ich kann und will nicht unter mein Niveau“, schrieb Gottfried Benn 1949. Zwei Originalhörspiele schrieb er aber doch: „Drei alte Männer“ 1948 und 1951 „Die Stimme hinter dem Vorhang“. Schließlich wusste er um das Wesentliche: „Hörspiel hin oder her (…) eines wird das Entscheidende sein, dass es das gewisse Etwas hat, diese gewisse Faszination, die allerdings die Kunst von allem übrigen unterscheidet.“

Ein Familientreffen: Alle Geschwister kommen zu ihrem Erzeuger, der sich aber hinter einem Vorhang verbirgt. Benn ironisiert hiermit Instanzen religiöser oder richtender Macht. Die Kinder monologisieren über den Zustand der Welt, einzig von der Vater-Stimme um „weniger im Detail“ oder „mehr Vertiefung“ in ihrem Vortrag unterbrochen und dirigiert. Hauptthema ist die Liebe jenseits traditioneller Moral: Eine Tochter ist polyamorph und damit zufrieden („Ich kann zwei Männer lieben“), ein Sohn bezeugt die fürs Eheglück hygienisch notwendige Funktion von Affären: „Für die Praxis gilt: Eine gute Regie ist besser als Treue“. Mit Rat und Tat kann dieser Vater aber nicht helfen, seine Nachfahren müssen die Widersprüche der Welt aushalten, als „Solitäre“, Einzelne in einer mit Hilfe der Kunst zu ertragenden Eiseskälte der Welt. Diese Stimme verachtet nicht zuletzt den Primaten Mensch, der in modernen Zeiten, dem früheren Ritus gleich, und somit atavistisch, gar Sicherheit und Orientierung in der Medien- und Informationskultur sucht; gerade dort sucht, wo Wirklichkeit und Wahrheit simuliert werden. Zwei Monate später – der dritte Teil ist mit „Melancholie und Neonlicht“ betitelt – ist der Vater wie weggezaubert und nur noch abwesend präsent; alle stimmen in den Chor ein, kein Heil sei im Heillosen zu finden.

Dieses dichterisch so präzise wie heitere Stimmenspiel Benns verabschiedet im aufklärerischen Sinne jegliche Heilsgeschichte. Und ermutigt in seinem humanen Pathos, trotz allem nicht aufzuhören, im Dunkeln „zu tun, was wir können“.

Die weitgehend unbekannte Fassung eines Hörspielklassikers

Archivschätze haben vielfach eine Geschichte; so auch Gottfried Benns Hörspiel „Die Stimme hinter dem Vorhang“. Gert Westphal inszenierte es erstmalig im Jahr 1952 für Radio Bremen in einer gekürzten Textfassung. Diese Produktion wurde später als Hörbuch veröffentlicht und ist die vielfach zitierte und allgemein bekannte Radioversion. Verschollen ist eine weitere Version dieses Textes in der Regie von Gustav Rudolf Sellner von 1954 für den Hessischen Rundfunk. Kaum bekannt ist hingegen, dass Gert Westphal das Stück ungekürzt und somit unzensiert zum zweiten Male 1955 für den damaligen Südwestfunk realisieren konnte – eine Produktion, die mit einem neuen Komponisten (Rolf Hans Müller) und anderen Sprechern um gut 10 Minuten länger ist als die von Radio Bremen.

„Die Stimme hinter dem Vorhang“ Hörspiel von Gottfried Benn

Mit: Ursula Langrock, Henny Schneider-Wenzel, Friedrich von Bülow, Otto Collin u. a.
Musik: Rolf Hans Müller
Regie: Gert Westphal
(Produktion: SWF 1955)

Gottfried Benn (1886–1956) arbeitete als Arzt und war einer der großen deutschen Dichter, Erzähler und Essayisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

© SWR 2, Hörspiel, 30.3.2018

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