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Ein Jahr Mediendiät: März und April 2024, Teil 2

Eine Beitragsreihe von Jochen Kleinhenz – die Monate März und April im Doppelpack, Teil 2 (Teil 1 hier). 2012 war für mich ein besonderes Jahr – die Einsicht, dass ich körperlich komplett »aus dem Leim gegangen« war, und das Mindset, das ändern zu wollen (!), gingen Hand in Hand: Also 20 Kg runter innerhalb von 20 Wochen, zurück zu meinem Abiturgewicht (knapp 25 Jahre zuvor), gleichzeitig Aktivitäten erweitert (mehr Wandern, und Rad, Rad, Rad …) oder bewusster verfolgt – das hält seither gut. Den Körper freuts, den Kopf ebenso. 

2023 wuchsen um mich herum die Stapel: Bücher, die gelesen, LPs und MCs (seltener: CDs), die gehört werden wollen. Also griff ich auf die Erfahrungen von 2012 zurück und beschloss: Anders, aber vor allem weniger muss es werden …

Stimmt das aber so? Habe ich mich an Medien »überfressen« (wie an so mancher Nudelschüssel abends, mit den Kindern)? Habe ich nicht längst genug von allem? Gegenfrage: Wann und was ist genug?



Zuerst: Bücher kaufe ich gar keine um der Zerstreuung willen – sie sind für mich nach wie vor die zentrale Instanz, wenn es um individuelle Wissensvermittlung und Erkenntnisgewinn geht, und hier zu sagen »Schluss, ich weiß, was ich wissen muss und brauche nichts Neues mehr« geht gar nicht. Oder? Im letzten Jahr, auf einer kleinen Familienfeier, habe ich mal wieder ein paar Freundinnen und Freunde aus meiner Jugendzeit wiedergesehen. Plaudern über dies und das, dann kommt das Thema auf Bücher … »Ich habe seit der Schulzeit kein Buch mehr angefasst.« Solche Sätze kommen mit einer Selbstverständlichkeit, die mir beinahe schon körperlich weh tut, mindestens aber extremes Unbehagen produziert. Dieser Mensch, ein Jahr älter als ich – wie hat er sich nur in all den Jahrzehnten seither informiert? Zeitung? Das kann nur das regionale Blatt sein, und dort vermutlich nur Lokalnachrichten. Fernsehen? Radio? Bei beidem vermute ich eine enorme »private« Schlagseite, auch wenn in unserer Generation der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk noch einen besseren Ruf genießt (vom Grundprinzip her), als er heute tatsächlich verdient (im Hinblick auf das Imitieren privaten Dudelfunks und das Schleifen hochkarätiger Wortprogramme, wie aktuell beim Bayerischen Rundfunk und BR2). Ich bin ein großer Fan des Prinzips ÖRR, Rundfunkgebühren zahle ich nach wie vor gerne, weil ich an das System glaube, auch wenn ich das Angebot persönlich kaum noch nutze: Das TV-Programm etwa halte ich in weiten Teilen für eine bodenlose Frechheit, keine Stunde/Jahr verschwende ich mehr an diesen konformistischen Käse … aus der Mediathek gönne ich mir die eine oder andere Doku auf arte, aber auch hier sehe ich noch viel Luft nach oben.



Ich war vor kurzem erst wieder an meinem Bücherregal, in einer eher staubigen Ecke (also nicht so häufig frequentiert in den letzten Jahren), um durch meine ID-Archiv-Sammlung zu blättern: »Die Beute«, (klar: alle Ausgaben), aber auch die anderen Bände (»Soundtracks für den Volksempfänger« etwa, oder »Copyshop.«) habe ich mir vor über 30 Jahren gekauft (und allesamt gelesen). Sind sie veraltet? Nein, ich war eher erstaunt, wie aktuell sie immer noch sind – das Thema »Klasse« etwa war ja nie weg, auch wenn es (nach 1989) jahrzehntelang erfolgreich totgeschwiegen wurde (im neoliberalen Taumel, der alle und alles erfasst hat seither) und erst in den letzten Jahren, auch dank jüngerer heimischer Autor:innen wie Christian Baron oder Marlen Hobrack, wieder breiter diskutiert wird. Auch das Thema »Gender« wurde bereits prominent diskutiert. Und zu diesen Themen (Klasse und Identität resp. Politik und Gesellschaft im allgemeinen) erscheinen aktuell mehr lesenswerte Bücher als jemals zuvor: Kritische Bücher, die nicht zwingend meinen eigenen Vorstellungen zu diesen Themen entsprechen und an denen ich mich reiben und meine eigenen Gedanken und Einstellungen immer wieder neu überprüfen kann. Ich muss »Niemals Frieden?« von Moshe Zimmermann selbst lesen (und empfehle die Lektüre uneingeschränkt), César Rendueles’ »Gegen Chancengleichheit« ebenso (schon sein »Kanaillen-Kapitalismus« hat mich begeistert), und auch Diedrich Diederichsens »Das 21. Jahrhundert« passt neben all seine anderen Bücher in mein Regal … es ist doch unmöglich, zumindest für mich, hier zu sagen: »Ich will das alles nicht mehr wissen. Stop!«. Nein, das schaffe ich nicht – wozu auch? Um auf irgendeiner Party damit zu prahlen, dass ich keine Bücher mehr lese?



Mit Musik ist es ähnlich, wobei hier noch hinzukommt: Da ich selbst einige Jahre bei Label, Mailorder und Vertrieb gearbeitet habe, selbst Konzerte organisiert habe, selbst Medien (zur Popkultur bzw. Kultur allgemein) mitgegründet und -herausgegeben habe, kenne ich die prekären Bedingungen, unter denen das geschieht, noch sehr gut aus eigener Anschauung. Dass einige Aktivitäten davon länger zurückliegen, bedeutet ja nicht, dass mich das Thema (grob: Kultur in verschiedenen Facetten, möglichst abseits des Mainstreams) nicht mehr interessieren würde. Oder dass das Prekäre sich irgendwie verflüchtigt hätte – im Gegenteil: Es wurde ausgedehnt auf fast alle gesellschaftlichen Bereiche: Nicht mehr nur Kultur, auch Arbeiten allgemein, Wohnen, Gesundheit, Bildung sind mittlerweile beinahe durchgängig prekär geworden. Ich ändere daran nichts durch den Erwerb von Tonträgern; aber immerhin: mein Geld geht zum Großteil an Produzent:innen, Distribuent:innen und andere Menschen – nicht aber an dänische Muzak-Produzenten, deren Namen niemand kennt, die aber vergleichsweise Unsummen verdienen auf Streamingplattformen wie Spotify, während selbst alteingesessene Künstler:innen, die ehedem noch durch Tonträgerverkäufe allein zu Wohlstand gekommen sind, heute von Spotify mit kleinem Taschengeld abgespeist werden.



Neben ein paar Büchern war der März noch vergleichsweise harmlos, was Tonträger anging: Zufällig bekam ich mit, dass Frank Apunkt Schneider (Vielschreiber und als Testcard-Mitherausgeber indirekt einer meiner Nachfolger dort) einen 2nd-Hand-Plattenladen in Bamberg betreibt, mit dem er gerade an einen zentraleren Standort umgezogen ist: Neueröffnung! Für mich eine gute Gelegenheit, den Umstieg in Bamberg (die Distanz Würzburg–Coburg überbrücke ich seit geraumer Zeit mit dem Deutschlandticket, DB und ÖPNV) um zwei Stunden zu verlängern und vorbeizuschauen. Ich brauche hier nicht weiter auszuführen, dass, wenn ich so einen Laden betrete, meine Selbstbeherrschung nur mehr bedingt greift: Sechs Alben, davon 3 Doppelalben, Und das für einen immer noch nur zweistelligen Betrag (zwei nagelneue Alben dabei), inkl. zweier Fanzines. Ich war da völlig im Reinen mit mir …



Der April dann war allerdings einer der auch für meine Verhältnisse heftigsten Monate ever: Über € 1.000 nur für Tonträger! Die Hälfte davon als Vorkasse für zwei dicke Vinylboxen (einmal 9 LPs, einmal 11 LPs, jeweils mit Buch und anderen Beigaben), dazu drei »kleinere« Bestellungen bei ANOST in Berlin (eine Idee davon geben die YT-Videos, die diesmal eingebaut sind, bis auf Ideal, die habe ich in einem Anfall von Nostalgie in Bamberg eingeheimst) …



Was ist so anders an materiellen Medien (also Buch oder Tonträger) im Vergleich zur Datei, die nichts wiegt, keinen Platz verbraucht, überall hin mitgenommen werden kann? Sie sind präsent! Sie nehmen Platz ein, sie wiegen (und werfen damit auch ab und an statische Fragen auf), sie sind schwer (nicht jedes Buch lässt sich in jeder Position länger halten, etwa zum Lesen), sie sind sichtbar und erfordern ab einer bestimmten Menge systemisches Ordnen (Sortieren nach bestimmten Kriterien, Lagern in Regalen, …). Ich benötige zum Platz in meinem Kopf, den diese Medien einnehmen, zusätzlich Platz in meinen Wohnräumen. Inzwischen viel Platz. Wer mich besucht, sieht also nicht nur den Zustand in meinem Wohnumfeld, sondern blickt gleichzeitig in meinen Kopf. 

Was denken Menschen, die in leeren großen Räumen mit einer Handvoll ausgewählter Designermöbel leben, eigentlich den ganzen Tag?



PS: Ich muss diese Artikelreihe hier beenden, weil »Mediendiät« für die eine oder den anderen sicherlich mehr bedeutet als eine Chronik des permanenten Scheiterns. So unterhaltsam sich das auch gestalten ließe … mein Problem mit den Medien ist ein anderes: Sie sind jahrzehntelang treue Begleiter gewesen in meinem Werden und haben mein Denken und Tun beeinflusst. Sie haben mir immer den Eindruck vermittelt, den Harald Welzer in einem Buchtitel zusammengefasst hat: »Alles könnte anders sein«.

Natürlich weiß auch ich den digitalen Fortschritt zu schätzen, aber die Diskrepanz zwischen scheinbarer permanenter Verfügbarkeit aller Informationen und die Beschäftigung mit denselben (geschweige denn die Fähigkeit, aus diesen Informationen die richtigen Schlüsse für ein sinnvolles Handeln abzuleiten) ist krasser, als ich mir das je hätte vorstellen können. Und das war schon so, bevor KI ins Spiel kam und künftig keine digitale Information mehr valide wird sein können: Kein Text, kein Bild, kein Klang – »künstlich« verweist hier auch nicht mehr auf Kunst oder Kreativität, sondern nur noch auf das Unechte, Falsche. »Fakes« und »Pranks« gab es immer – aber sie waren als solche kenntlich (oder wurden als solche kenntlich gemacht) gegenüber dem vermeintlich »Echten« (das schon immer auch diskutiert und in Frage gestellt wurde). Nun sind sie der Standard, weil nicht mehr (das Streben nach) Qualität im Vordergrund steht, sondern Quantität: Alles – Mensch, Natur, Erde, Weltall – ist auf die ordinärste Form der Mathematik, die Gleichung (vulgo Kosten-Nutzen-Rechnung), heruntergebrochen, die meisten Dystopien (etwa »Schöne Neue Welt« von Aldous Huxley) haben wir bereits hinter uns gelassen. Wir alle wurden auf »Luna« getrimmt (die weibliche Hauptfigur in Woody Allens »Der Schläfer«, 1973) – es gibt da die herrliche Szene, in der Miles (Woody Allen) und Luna auf der Flucht sind und Luna einen Zusammenbruch hat: »Ich will meinen Libidomat!«, quengelt sie da in freier Natur, abseits der Zivilisation. Und sie verweist schon auf das, was auch Mark Fisher später in »Die Sehnsucht nach dem Kapitalismus« analysieren wird: Das süße Gift unserer Wohlstandsverwahrlosung.

Mein »Unbehagen in der Kultur« rührt woanders her, eine »Mediendiät« schafft hier sicher keine Abhilfe. Ich muss nachdenken … und bedanke mich bei allen, die bis hierher mitgelesen haben.

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