Cesária Évora hat die Kapverden auf die musikalische Weltkarte gesetzt. Ihre selbstbewussten Enkel kombinieren alte Traditionen mit Hip-Hop und Afrobeats und kämpfen um internationale Anerkennung. Von Jonathan Fischer.
Hélio Batalha ist ein hünenhafter Rapper, von den Schultern bis zu den Waden tätowiert. Wie ein Prophet blickt er über seine Stadt Ponte de Agua, wo sich Häuschen bis zum Hang hinauf stapeln. Die hübscheren sind bonbonfarben gestrichen. Der Rest befindet sich – grauer Beton, dunkle Fensterhöhlen – zwischen Rohbau und Verfall. Im Hintergrund schimmert bläulich der Atlantik, der die Kapverden mit Afrika, Europa und Amerika verbindet.
In den Hinterhöfen, über schmale steile Fusswege gespannt, hängen bunte Wäscheleinen. Akkordeonklänge, mit modernen Elektro-Beats unterfüttert, flirren aus einer Bar. Es wirkt alles pittoresk und faszinierend. Trotzdem verirren sich kaum Touristen hierher. Zu arm ist die Gegend, zu heruntergekommen. Und zu gefährlich. Auch die Hunde, die zwischen dem Bauschutt, Skeletten alter Autos und Kühlschränken nach etwas Essbarem schnüffeln, wirken mager und verwahrlost. «Sodade» liegt in der Luft. Wo, wenn nicht hier, lernt man die bittersüsse Traurigkeit zu begreifen, die der kapverdischen Musik seit je innewohnt?
Das afrikanische Erbe! Es ist auf den Kapverden – rund fünfhundert Kilometer sind sie von der senegalesischen Küste entfernt – überall zu spüren. Erst mit dem Sklavenhandel wurden die zehn Inseln im 15. Jahrhundert besiedelt. Als Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika verschleppten die Sklavenhändler Afrikaner verschiedenster Ethnien hierher. Diese brachten wiederum verschiedenste Rhythmen und Gesänge mit.
© NZZ, Feuilleton, 10.6.2023