Release Tipp: Polwechsel – Embrace / Ni Vu Ni Connu

30 Jahre Polwechsel oder 30 Jahre Gebhard Ulmann’s Basement Research, deren letztes Konzert ich vor kurzem hören durfte. Das sind Zahlen, die mich zum Staunen bringen und mir vor Augen führen, was Bandgeschichte in diesem Zeitraum bedeutet. Ein Grund mehr, sich mit diesem Musikerkollektiv zu beschäftigen. Die liebevoll gestaltete Box mit vielen Fotos aus der Bandgeschichte ist allein schon den Kauf wert.


Seit 30 Jahren musiziert das in Wien und Berlin ansässige Ensemble Polwechsel an der Schnittstelle von kollektiver Improvisation und zeitgenössischer Komposition. Mit ihrer wechselnden Besetzung steht die Gruppe an vorderster Front des musikalischen Experimentierens, von stilbildenden Arbeiten im Reduktionismus der 1990er Jahre, die sich auf Stille, Hintergrundgeräusche und Störungen konzentrierten, bis hin zu einem Richtungswechsel in den 2000er Jahren, der die Einführung traditioneller musikalischer Aspekte wie tonale Beziehungen, Harmonie und Rhythmus mit sich brachte. In wechselnden Konstellationen, Besetzungen und Kooperationen haben Polwechsel ein einzigartiges Werk entwickelt, das sie als eine der treibenden Kräfte des zeitgenössischen Musikschaffens fest etabliert hat.

Auf dieser Jubiläumsveröffentlichung spielen Werner Dafeldecker, Michael Moser, Martin Brandlmayr und Burkhard Beins zusammen mit einer Reihe von gleichgesinnten Gastmusikern und ehemaligen Bandmitgliedern eine Reihe neuer Stücke, die die ganze Bandbreite ihrer musikalischen Erkundungen widerspiegeln.© Text: Label




Kompositionen und klare Spielkonzepte zu schaffen, diese aber mit der Erfahrung der Improvisation beleben zu lassen – dieses Konzept ist eine der Konstanten in der Entwicklung der Formation Polwechsel. Prozessorientiertes Denken in prägnante Form und Struktur gebracht. Und das alles ohne dramaturgische Entwicklungen, die auf einen Höhepunkt zusteuern. Spannung halten statt Spannung aufbauen und wieder abbauen – mit diesen wenigen Worten lässt sich die Musik von Polwechsel beschreiben

– Nina Polaschegg

30 Jahre lang hat Polwechsel mit seinen sich entwickelnden Methoden die Vorstellungen davon, was Gruppenmusik sein kann, sowohl infrage gestellt als auch gestärkt. Nicht um der Theorie willen, sondern um etwas zu schaffen, das sich wirklich so anfühlt, als wäre es vorher nicht da gewesen. Während diese neuen Stücke viele schwer fassbare Bedeutungswelten heraufbeschwören, sind sie, so denke ich, in den sehr menschlichen und persönlichen Qualitäten aller Beteiligten begründet.

– John Butcher


Beim Durchlesen des Booklets ist mir besonders der Anfang des Textes von Nina Polaschegg in Erinnerung geblieben. Charakterisiert er doch die Faszination, die von der Musik von Polwechsel ausgeht, ganz wunderbar zusammen und mehr möchte ich selbst dazu nicht schreiben. Entdeckt diese wunderbare und faszinierende Musik für euch.


September 2000. Ich traf meinen Vater in New York. Er hatte dort beruflich zu tun und meinte, „lass uns abends ins Konzert gehen, such etwas aus“. Gesagt, getan. Was fand ich? Mir bis dato unbekannte Musikernamen aus Österreich. Das Fazit meines klassikbegeisterten Vaters nach dem Konzert: „Ich verstehe zwar nicht, was ich da gehört habe, aber es war total spannend zu hören, was da passierte.“ Auch mich hat die Musik fasziniert. Damals aus Improvisationssicht in dieser Konsequenz relativ neu für mich, tauchte ich wenig später tief in all diese Klänge freien Improvisierens und auch des Konzipierens ein.


Zwar sind die neueren Aufnahmen gelegentlich etwas dichter in der Textur und reicher an phantasievollen Klängen geworden. Auch die Spielabläufe sind runder geworden, deutlicher als zu Beginn. Polwechsel hat sich bis heute seinen fein durchsichtigen instrumentalen Charakter bewahrt. Zusammen mit der inneren Ruhe, lange Spannungsbögen aufrechtzuerhalten, und der Sensibilität, das Verhältnis von Aktion und Nicht-Aktion konsequent auszubalancieren.

– Reinhard Kager

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