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„Blaupause“ Hörspiel von Leonie Lorena Wyss

Hörspiel des Monats Juli 2024. Wenn Blau ein Gefühl ist, ein sehr schönes, dann ist das Verschwinden von Blau grau. Die Brüste wachsen und mit ihnen das Verlangen. Eine poetische und unkonventionelle Coming-of-Age-Geschichte als queeres Pop-Hörspiel.



„Auf einmal war sie weg. Verschwunden. Verschwunden im Sinne von nicht wiedergekommen, im Sinne von nie wieder aufgetaucht“, die Farbe Blau, das Symbol für – was auch immer. Weg ist das Symbol, durchgestrichen die Bedeutungen: Wir werden im Hörspiel „Blaupause“ von Leonie Lorena Wyss mit einer Verblüffung nicht einfach abgeholt, sondern gleich mitgerissen, hineingerissen in den schnatternden Urwald menschlicher Gefühle, Regungen und Bewegungen, Seufzer und Sätze. Wir verirren uns im Schatten junger Mädchen auf ihrem qualvoll süßen, erschreckend sehnsüchtigen Coming-of-age-Weg. Der beginnt bei der unvermeidlichen Familienfete inklusive Chor der dreizehn „Cousinenköpfe dicht über der Bärlauchsuppenpfütze vor ihnen“, bei penetrant ratgebenden Tanten und dem Überfall eines Gesprächsstoffes, des Gesprächsstoffes überhaupt: SEBASTIAN. Begleitet von allen nur denkbaren Variationen zum Thema Kichern. „Wir haben uns geküsst, und bald sicher auch das andere.“ Grell ziehen die Stationen des Passionswegs an uns vorüber: So der Biologieunterricht mit seiner Tier-Doku und den „Jungs in der hintersten Reihe“, die „angefangen haben zu pfeifen, als da der Löwe irgendwie so von hinten auf die Löwin“. Oder die Kaufhofkasse, bei der sich peinlicherweise herausstellt, dass die gewählten Kaugummis mit Wassermelonengeschmack nicht zum Kauen gedacht sind. Da sind die Tampons, für alle Fälle schon mal eingepackt. Das herumgereichte Filmstill, darauf: „Zwei Frauen, die eine blaue Haare, die andere dunkelblond, schauen sich an, die Lippen ganz nah, küssen die sich?“ Und danach die heimliche Internet-Recherche. Party, Wohnzimmer-Dancefloor und fettige Chipsfinger. Alle nur denkbaren Variationen zum Thema Sebastianslachen. Digitaler Lesbentest und zarte Versuche. Später dann – „wir sind zwanzig“ – auf dem Teppichboden in der Wohnung des 38-jährigen Tindertypen, „Flusen, die kratzen im Rücken, die Uhr mit dem Eiffelturm an der Wand, der Zeiger zwischen 0 und 1.“ Ein Rausch geht zu Ende, der rasante Trip ins Erwachsenenalter in seiner ganzen, harten Ambivalenz. Leonie Lorena Wyss schneidet die Realitäten nur an, zeichnet sie aber im Ausschnitt präzise nach und kommt darum ohne Erklärungen aus. Das ist korrektes Zitieren der Wirklichkeit. Auch in der Hörspielumsetzung: Die Töne stimmen, die Sprechhaltungen des brillanten Ensembles leisten nachgerade Wahrheitsnachweise. Dabei verwebt der Regisseur Henri Hüster Text und Sprechchoreinsätze mit der Bruitage und den Klängen von Sofia Kennedys Soundtrack zu einer Einheit, die zwischen dialogischem Rap und akustischem Comic oszilliert. Bilanz: Heiße Ästhetik, ganz große Kunst und darum Hörspiel des Monats Juli 2024.


Blaupause
Von Leonie Lorena Wyss
Regie: Henri Hüster

Mit: Lara Sienczak, Sophia Kennedy, Sasha Rau, Svetlana Belesova, Edith Saldanha, Josefine Israel, Maximilian Scheidt, Levin Hofmann und Leonie Lorena Wyss
Komposition und Gesang; Sophia Kennedy
Technische Realisation: Christian Alpen und Sebastian Ohm
Regieassistenz: Sarah Veith
Dramaturgie: Michael Becker
Produktion: Norddeutscher Rundfunk 2024

© Deutschlandfunk, Hörspiel, 5.10.2024

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