Musiktipps

ÄMM – Älterwerden mit Musik von Jochen Kleinhenz

1943. Mein abendlicher Spaziergang führte mich mal wieder in die Nachbardörfer. Im ersten fällt die Straße relativ steil ab, und während ich schon unten in der Senke bin, höre ich hinter mir, von oben kommend, Musik ohne Motorengeräusch.

Ein Jugendlicher nutzt mit seinem Fahrrad das Gefälle, um mit ordentlich Speed den Berg hinabzufahren – aus einer Box (ich vermute: eine JBL Flip-Box im Flaschenhalter) dröhnt Rockmusik. Laut, aber sauber. Stilistisch eher klassische Rockmusik, bluesbasiert, instrumental … bis der Sänger einsetzt: Jim Morrison. Der junge Mann hört ein weniger bekanntes Stück der Doors beim Radfahren – ein Musikstück, das vermutlich mindestens dreimal älter ist als er selbst …

… und ich komme ins Grübeln: Warum hört er »die alten Säcke« (wie einige meiner Altersgenoss:innen sagen würden). Sind wir nicht alle immer wieder auch verwundert, wenn wir Greisen wie Mick Jagger oder Keith Richards, beide Jahrgang 1943 (also vier Jahre älter als mein Vater – und ich bin 55 Jahre alt!), zusehen, wie sie immer noch auf der Bühne die Rockmusik aufführen, die sie seit 1962 (sechs Jahre vor meiner Geburt) gemeinsam komponieren und spielen? Die Rockmusik, die einst als Zeichen jugendlicher Rebellion galt?
Jim Morrison wurde ebenfalls 1943 geboren – starb allerdings 1971 noch vor seinem 28. Geburtstag und wurde einer von vielen im oft erwähnten »Klub 27« (neben Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, aber auch Kurt Cobain oder Amy Winehouse, um nur die bekannteren Musiker:innen zu nennen). Insofern hörte der junge Mann auf seinem Fahrrad nicht die Musik »alter Säcke«, denn der Sänger und die Mitmusiker waren, je nachdem, auf welches Jahr dieses Doors-Stück datierte, Anfang bis Mitte 20 (der junge Mann dürfte ungefähr 18 Jahre alt gewesen sein). Der junge Mann hörte also durchaus Musik, die seine Altersgenossen produziert hatten, wenn auch mit einer zeitlichen Verzögerung von mehr als einem halben Jahrhundert …

Ist das nun aber nicht trotzdem »veraltete« Musik? Müsste er nicht irgendwas von irgendwem aus seiner Generation hören? Auch wenn die zeitgenössische Variante u.U. mit der gleichen Instrumentierung erzeugt würde? Müsste er nicht rein elektronische Musik hören? (Wir erinnern uns: An den Doors war auch schon alles elektronisch – Orgel und E-Gitarre sowieso, aber auch Schlagzeug und Stimme wurden über Mikrofone abgenommen und durch Elektronik verstärkt.) Dabei fällt mir wieder ein, wie der jüngere Sohn unserer Nachbarn, kaum erwachsen, vor ein paar Jahren von seinem Diskothekenbesuch erzählte und sich beschwerte, dass da »bloß altes Zeug« gespielt wurde. Er meinte Techno und House.



All dies ging mir gestern Abend durch den Kopf, als ich die jüngst eingetroffene Vinyl-EP von Elegiac durchhörte. Elegiac? Ein Trio, das ganz gut ins Elektro-Punk-Fach meiner Sammlung passt, neben Sleaford Mods etwa. Die Musik des Trios ist allerdings deutlich facettenreicher, also nicht so extrem reduziert und loopbasiert wie die Tracks eines Andrew Fearn (Sleaford Mods) – am liebsten sind mir ja Video-Mitschnitte der Sleaford Mods live: Mehr Anti-Performance geht nicht, Fearn betätigt am Laptop lediglich eine Taste, um den jeweiligen Track zu starten, dann stellt er sich daneben, trinkt sein Bier und … überlässt Sänger Jason Williamson den Rest.



Bei Elegiac läuft das etwas anders: Einer an »Synth, Sampler, Beats & Bass«, einer singt und/oder spielt Saxophon, einer mischt. Durch die Interaktion verschiedener Musiker (allesamt Männer) und verschiedener Instrumente (analog und digital) kommt von alleine mehr Musikalität auf (im Vergleich zu den Tracks von Fearn) und erinnert durchaus an Ästhetiken, die ebenfalls einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben: Stichwort »Post-Punk«. Die Tracks sind durchgängig rhythmisch, aber nicht treibend, die Sounds klingen teilweise nach frühen Synthesizern, aber zeitgemäß, und das Saxophon wirkt sehr frei gespielt, eher improvisiert denn Melodielinien suchend. Für mich, der eine ansehnliche Sammlung an Post-Punk-Veröffentlichungen besitzt (und regelmäßig hört), ist das genau die zeitgenössische Variante dieser Musik, der ich selbst etwa im Alter des eingangs erwähnten jungen Mannes begegnete und die mich seither geprägt hat wie kaum eine andere.



Elegiac, das sind Sam Britton (Icarus, Alter unbekannt) an Mix & Arrangement, Edvard Graham Lewis (Wire, Jahrgang 1953) an allem anderen bis auf Ted Milton (Blurt, Jahrgang 1943 – wie die eingangs erwähnten Jagger & Richards), der singt/spricht und sein unverwechselbares Saxophonspiel beisteuert. Es klingt nicht ganz nach einem Bastard von Wire/Dome und Blurt etwa, aber ist doch unverkennbar ein Gewächs, das auf dem Fundament der beiden eine sehr zeitgemäße Variante von Post-Punk skizziert, die frisch klingt und mir außerordentlich gut gefällt. Mir ist dabei allerdings klargeworden: Der junge Mann auf seinem Rad hört in der Musik, die die Doors Jahrzehnte vor seiner Geburt eingespielt haben, vermutlich mehr »Neues« als ich in der Musik von Elegiac. Von diesen gibt es, neben der gleichnamigen Debüt-Do-12″ von 2021, mittlerweile die pressfrische EP mit dem (neuen) Titel-Track »Meet My Stalker« nebst drei Versionen von Tracks des Debüts.


Beide Releases sind natürlich auch als Schallplatte erhältlich.



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