Musiktipps

„Atmen, Kichern, Lippenplopps“ Von Jürgen Kesting

Ohne zu Pfeifen, bewältigt sie stratosphärische Höhen: Die Sängerin Sarah Aristidou bezaubert auf ihrer Debüt-CD „Æther“ mit klassischen Koloraturarien genau so wie mit kühnsten Experimenten modernen Singens.

Wer nur etwas von Musik verstehe, bemerkte Hanns Eisler, verstehe auch von Musik nichts. Um den Sinn der Anthologie zu verstehen, mit der die französisch-zyprische Sopranistin Sarah Aristidou bei ihrer Debüt-CD „Æther“ (Alpha Classics/Outhere) „das klassische und moderne Koloratursopran-Repertoire“ zusammenzubringen versucht, mag es hilfreich sein, sich mit der alt-griechischen Lehre der vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde und Luft – vertraut zu machen und ganz besonders mit dem fünften Element, dem Äther, der „Quintessenz“ (Aristoteles). Die in einer wolkenumwobenen winterlichen Landschaft stehende Sängerin ist auf dem Cover die Bildchiffre für die Erkundung der göttlichen Sphären des obersten Himmels, die von den Heldinnen „durchlebt werden bei ihrer inneren Suche nach einem perfekten Anderswo“ (Aristidou).

Die achte Station der Suche: „Labyrinth V für Koloratursopran“. Ein Lachen aus tiefster Seele – drei Sekunden lang. Ein hektisches, tonloses Flüstern auf Konsonanten – vier Sekunden. Ein heftiger Schrei, forte fortissimo, erhellt das Dunkel wie ein greller Lichtstrahl. Keuchendes, angestrengt-stößiges Einatmen. Langsame Wiederholungen dieser Figuren, die sich in Klänge verwandeln. Ein dunkles aufsteigendes U hellt sich auf zum I und sinkt zurück ins Dunkel. Ein U-I-Glissando; eine Folge von Bockstrillern; eine Reihe von synkopierten „jazzigen“ Phrasen, durchsetzt mit Lippentrillern; rasche Vokalisen, die mit großen Sprüngen einen weiten Tonraum bis zum C durchwandern und in einem sich beschleunigenden Triller enden; Schläge mit der Hand auf den Brustkorb; Glottisschläge; Zungenklappern, Lippenplopps, Stöhnen, Seufzen, Kichern und nervöses Schluchzen; verstärkte Atemgeräusche, dann eine mähliche Entspannung: Jörg Widmanns „Labyrinth V“, eine knapp elf Minuten lange Klang-Geräusch-Vokalise, geschrieben für die hier singende Sopranistin, deren Stimme der Komponist bei der Komposition oder der Konzeption „im Ohr/ Kopf/Bleistift“ hat.




© Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, 3.2.2022

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