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„Das Röhren des leisen Rebells“ „A House of Call“ von Heiner Goebbels eröffnet das Musikfest Berlin 2021

Denken, träumen – und immer weiter komponieren: Das „Ensemble Modern Orchestra“ unter Vimbayi Kaziboni eröffnet das Musikfest Berlin mit dem wundervollen Antikomponisten Heiner Goebbels. Von Reinhard J. Brembeck.

Der Komponist Heiner Goebbels, er wird nächstes Jahr 70 Jahre alt, war in den Siebzigerjahren Mitbegründer des „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“. Dass er Querstände und Querdenkereien noch immer liebt, ist in Berlins Philharmonie unübersehbar. Dort steht der Dirigent des „Ensemble Modern Orchestra“ nicht vorn in der Mitte vor den frontal zum Publikum spielenden Musikern. Nein, der vor Energie sprühende Vimbayi Kaziboni steht ganz rechts, die Streicher sitzen quer zur orchesterüblichen Aufstellung im Halbprofil zu den Zuhörern. Im Hintergrund sechs Schlagwerker, ein riesiges Hackbrett (Cymbalon), klassische und E-Gitarre, Akkordeon, E-Piano und der erste Kontrabassist spielt auch mal E-Bass, alle Musiker werden elektronisch verstärkt.

So beginnt das Musikfest Berlin, die große Leistungsschau der hauptstädtischen und eingeladenen Großorchester mit der Uraufführung von Heiner Goebbels pausenlos hundertminütigem „A House of Call“, das wie alle Goebbels-Stücke von den 1000 zugelassenen Hörern bejubelt wird. Das Stück ist eine in fünfzehn Teilen daherkommende Megasinfonie und letztlich nicht weniger als die Summe der Querdenkereien dieses wundervollen Antikomponisten, der mit seinen Musiktheaterstücken („Eisler-Material“) schon immer und auch jetzt wieder den Spagat zwischen Philosophie, Rock, Widerstand, Avantgarde und Publikumserfolg hinkriegt.

„A House of Call“ ist ein Lebenstagebuch, das die akustische Welt des Heiner Goebbels vollkommen vermisst. Avantgarde wird mit Free Jazz gekoppelt, Poprhythmik mit Mikrotonalität, Religion mit Politik, Literatur mit Traditioneller Musik, und Hardcore-Ästhetik mit einer die Stile schamlos schön mixenden Musica impura. Dabei lässt Goebbels natürlich keineswegs seine großen und hymnisch verehrten Lieblingskünstler außen vor, James Joyce, Heiner Müller, John Cage, Samuel Beckett, Pierre Boulez. Vimbayi Kaziboni und das schon seit langem für den leisen Rebellen Goebbels engagierte Ensemble Modern tanzen und rocken sich fast zwei Stunden durch dessen Erinnerungen. Sie dürfen einen Reggae aufführen, sie hämmern, sie untermalen die Stimme von Goebbels einhundertjähriger Mutter bei einigen Eichendorff-Versen und skandieren zuletzt in schlichten und sich nur minimal verändernden Akkorden Samuel Becketts letzten Text „What When Words Gone“.


Der Mitschnitt des Konzertes der Uraufführung kann hier für minimal 5 Euro bis 10.9.21 angeschaut werden.



© Süddeutsche Zeitung, Kultur, Klassik, 31.8.2021

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