Musiktipps

Ein Jahr Mediendiät: März und April 2024, Teil 1

Eine Beitragsreihe von Jochen Kleinhenz, der diesmal arbeitsbedingt etwas später dran ist – und da der April auch schon zu 2/3 vorbei ist, gibt es beide Monate im Doppelpack: Teil 1 hier, Teil 2 folgt Ende April.


Ich hatte mir das tatsächlich viel einfacher vorgestellt: Nichts mehr kaufen, zumindest eine Zeit lang, keine Bücher, keine Tonträger – stattdessen endlich mal »Klar Schiff« machen in der Bude, aufräumen, sortieren, evtl. sogar aussortieren. Es ist schließlich genug da …



Entsprechend groß war meine Freude, eine Bestellung abzugeben: LP-Trenner aus Vinyl (25 Stück in Grau), um endlich mal das Alphabet ordentlich sichtbar zu machen; die Trenner gleich noch in kleiner, dünner und mit Registeroptik im 7″-Format dazubestellt, für den laufenden Meter Singles; je zwei Archiv-Kartons für 12″- und 10″LPs – erstere für die LPs, die ich aussortieren und via Verkauf erneut in Umlauf bringen möchte, zweitere für meine A5-Fanzine-Sammlung (Bad Alchemy alleine füllt schon anderthalb Kartons, glücklicherweise sind die Stückzahlen bei »Empty Quarter« oder »Kosmischer Penis« überschaubarer) plus die uralten No Man’s Land-Kataloge aus den 1980ern resp. frühen 1990ern (essentielle Nachschlagewerke). 25 Leercover mit großem Ausschnitt an der Frontseite für Picture-LPs – und gleich noch 50 Spezialhüllen passen dazu. Die 15 Sammelboxen aus Pappe für je 20 Musikkassetten, mit Deckel und stapelbar, habe ich vor lauter Aufregung allerdings vergessen, mitzubestellen …



… und los gings: Endlich (!) anfangen und die jahrelangen Häufchen und Cluster auflösen und ins reguläre Alphabet einsortieren, bei der Gelegenheit das eine oder andere mal wieder anhören. Vor einiger Zeit wurde in einer FB-Gruppe gefragt, wie die Leute ihre Tonträger sortieren – alphabetisch, nach Genre, nach Label, nach Format … mein Kommentar: »Nur alphabetisch – das funktioniert so gut, dass ich gleich mehrere Alphabete habe.« Tatsächlich konnte ich lange Jahre sehr gut und streng alphabetisch sortieren, bis ich dann mit dem DJ-ing anfing Anfang der 1990er – da blieben dann bestimmte Scheiben dauerhaft im Plattenkoffer, andere, vor allem Maxis mit Techno/House/Ambient, fanden nie ihren Weg ins reguläre Alphabet, sondern bildeten erste separate Cluster, die in eigenen Fächern landeten (nach Label oder Genre sortiert). Eigene Regale wurden dafür nötig, und irgendwann kam der Punkt, an dem ich nachgemessen habe: Von den ca. 15 laufenden Metern 12″-Format besteht nur noch die Hälfte aus dem strengen Alphabet, die andere Hälfte aus thematischen Fächern für Labels (On-U Sound etwa, oder Touch), Interpreten/Bands (KLF, Cabaret Voltaire, Billy Childish, Arthur Russell etc.), den Techno/House-Fächern (Jeff Mills, Robert Hood, Global Communication, Kompakt, Irdial, Disko B, Ladomat, …). Einiges davon lässt sich sicher nicht sinnvoll in ein stures ABC überführen, aber doch mehr als gedacht – die LPs etwa, die mir ein Freund immer wieder mal geschenkt hat (Promo-Exemplare), machten inzwischen auch ein ganzes Fach aus: Höchste Zeit, hier mal aufzuräumen.



Dazu kommt, dass mir vor Jahren ein Freund unaufgefordert seine LP-Sammlung geschenkt hat, etwa eine Bananenkiste voll – viele Überschneidungen mit meinem eigenen Bestand, bei ihm aber deutlich gitarrenlastiger: Das meiste davon hatte er sich in dem Jahrzehnt nach unserem Abi zugelegt, also grob 1988–98. Die Highlights hatte er mir seinerzeit auf Kassette überspielt, nun schenkte er mir die Originale: »Crazy Rhythms« von den Feelies etwa oder »Is This Real?« von den Wipers, etliches von Fugazi (inkl. der gleichnamigen Debüt-EP mit dem epochalen »Waiting Room«), dann noch Dinosaur Jr., Bomb Party, Christian Death, Smersh, Butthole Surfers … alles, was die damaligen Fächer »Indie/Alternative« in den Plattenläden eben so füllte. 



Die habe ich überwiegend und sehr gerne in meinen Bestand übernommen – einiges hat allerdings den »test of time« nicht bestanden: Cassandra Complex oder Borghesia hatte ich selbst auch, aber schon Anfang der 1990er wieder aussortiert; nun nochmal neugierig angehört, ob sich meine damalige Einschätzung evtl. relativiert hätte … aber Fehlanzeige: Gerade bei Cassandra Complex kann ich gar nicht mehr nachvollziehen, was an dieser Musik uns damals gefallen haben könnte, aber auch andere Platten aus dem EBM-Umfeld sprechen heute gar nicht mehr zu mir (oder ich verstehe sie nicht mehr). Die anderen (Ministry etwa) habe ich nie weggegeben und immer wieder mal rausgeholt zum Anhören. Ebenso Tackhead, Mark Stewart oder Keith LeBlanc. 



Keith LeBlanc ist erst Anfang April verstorben, viel zu früh (wie Mark Stewart, der im April 2023 noch viel zu früher verstarb, mit gerade mal 62 – LeBlanc mit 70). Es tut fast ein bisschen weh, sich von solchen Doubletten zu trennen, sind es doch Alben, die mich stark geprägt haben und immer wieder mal auf dem Teller landen. Aber ich kenne schlicht niemanden mehr, der/die sich noch Vinyl-LPs kauft (diejenigen, die ich kenne, haben diese Platten bereits). Alle sind in die Streaming-Einöde abgewandert (»Einöde« klingt jetzt provokant, da die Streaming-Dienste ja scheinbar alles anbieten … aber eben nur scheinbar; von der verheerenden Wirkung auf die ökonomische Situation gerade weniger bekannter Künstler:innen ganz zu schweigen) und hören tagaus, tagein nur noch, was sie eh schon kannten, durchmischt mit »Neuem«, das genau so klingt wie das, was sie eh schon kannten … ich habe tatsächlich schon mehrmals Streaming-Adepten behaupten hören, sie wären die wahren Musikliebhaber:innen. Ich bezweifle das nicht nur, sondern würde das Gegenteil behaupten – werde das aber an anderer Stelle etwas dezidierter ausführen und hier erstmal so stehen lassen. Dass ich trotzdem Youtube-Links zu den Songs poste, darf unter »Ambiguitätstoleranz« subsumiert werden.



Neben den bereits erwähnten waren im Fundus des Freundes noch LPs von After Dinner, Semantics, Einstürzende Neubauten, Negativland, Cabaret Voltaire … oh, Moment mal: Meine »Red Mecca« ist die Mute-Wiederveröffentlichung, beim Freund findet sich die ältere Rough Trade-Variante – mein Platz reicht bestimmt für beide. 😉


Und dann hatte mir ja auch eine Freundin ihre LP-Sammlung geschenkt – die fand allerdings Platz in einer Stofftasche: Zuviel Kitaro, eine Handvoll Liedermacher (Hirsch, Wader, Buck), ein paar Klassiker (Stevens, Dylan, Cohen) und die 2-3 obligatorischen Klassik-LPs weisen die frühere Besitzerin untrüglich als Lehrerin aus, mit erkennbar protestantischer Färbung. Beim Reinhören in die Kitaro-LPs wurde mir wieder sehr schnell klar, dass »Elektronische Musik« und »Ambient« ein seeehhhr weites Feld beschreiben, das ich nicht komplett in meiner Sammlung abdecken muss. Ok, das hieß früher »New Age« oder »Meditationsmusik«, trotzdem bleibt es banales Wohlfühlgedudel ohne irgendeine musikalische Ecke oder Kante – in 56 Lebensjahren ist mir kein Moment erinnerlich, zu dem dieses hochglanzpolierte akustische Schlafmittel gepasst haben könnte.

»Ambient« hat sich ja langsam eingeschlichen bei mir – etwa mit den oben erwähnten Neubauten, deren »Haus der Lüge«-LP ebenso in der Freundeskiste stand, wie sie bei mir seit Erscheinen (1989) im Regal steht.  Die B-Seite beginnt mit der Trilogie »Fiat Lux«, und die beiden ersten Teile (»Fiat Lux« und »Maifestspiele«) haben mir mal, auf Kassette im Walkman, den Heimweg mit dem Fahrrad versüßt: Abends vom Zivildienst in Würzburg heim in den Vorort, am Müllheizkraftwerk vorbei – das war so stimmig, da musste ich absteigen vom Rad und mich einfach ins Gras setzen und zuschauen, wie die Sonne hinter den Schloten (und der Stadt) unterging …



Da fällt mir noch eine Anekdote ein, walkmaninduziert: Ich lief durch die Stadt (mittlerweile waren meine damalige Freundin und ich vom Vorort direkt nach Würzburg gezogen), wie so oft den Walkman dabei, und hörte mich durch die Kassetten-Compilation »Soundview Sources« (1990) durch. Es war ein sonniger Abend, keine einzige Wolke am blauen Himmel, meine Gedanken waren sonstwo, als plötzlich ein eher unvertrautes Hubschraubergeräusch näher kam und ich unwillkürlich nach oben blickte: Nichts. Weit und breit nichts – ich hatte ganz vergessen, dass ich einen Kopfhörer trug und mich Hildegard Westerkamps »A Walk Through The City« gerade eben nach oben blicken ließ … das waren so Kopfkino-Momente, die ich auch nach Jahrzehnten nicht vergessen habe.



Ja, so verlor ich mich beinahe in meiner Sammlung, hörte kreuz und quer, und alles schien soweit perfekt … wäre da nicht der Umstand, dass ich sowohl im März als auch im April mal wieder kläglich gescheitert bin an meinen eigenen Ansprüchen. Warum und wie – erzähle ich in Teil 2.

Ein Gedanke zu „Ein Jahr Mediendiät: März und April 2024, Teil 1

  • portfuzzle

    Ich bin dir gerne auf deiner Zeitreise gefolgt. Die alten No Man’s Land-Kataloge habe ich immer griffbereit und sie sind immer eine Erinnerung wert. Auch die sperrige Kassette in dieser Klarsichthülle, eine Compilation „Soundview Sources“, habe ich und sie ist ein Schatz. Wenn ich After Dinner, Semantics, Einstürzende Neubauten, Negativland, Cabaret Voltaire, Fugazi lese, stehe ich vor meinem Plattenregal und denke für mich: Es ist wieder Zeit. Danke Jochen.

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