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Machtfragen „Hilft Vernunft gegen Missbrauch?“ Von Petra Morsbach

Machtmissbrauch in Kirche, Politik oder Kultur zu melden, führt meist nicht direkt zur Abhilfe. Dennoch lohnt sich der Aufwand – denn wer gegen Missstände ankämpft, trägt zu einem liberalen Klima bei. Die Vernunft spielt dabei eine wichtige Rolle.

Die Schriftstellerin Petra Morsbach wurde 1956 in Zürich geboren. In München studierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Theaterwissenschaft, Psychologie und Slawistik, danach von 1981 bis 1982 Regie in Leningrad am Theaterinstitut. Nach ihrer Promotion in München war sie etwa zehn Jahre lang als Dramaturgin und Regisseurin tätig, zuletzt als freie Regisseurin. Ihren ersten Roman „Plötzlich ist es Abend“ publizierte sie 1995, seitdem hatte Petra Morsbach mit Romanen wie „Der Cembalospieler“ oder „Justizpalast“ große Erfolge.

I. Können Unmächtige mit legalen Mitteln einem Machtmissbrauch abhelfen?

Antwort: Im Prinzip ja – nie war das leichter als bei uns heute –, aber sie tun es kaum je.

Auf dieses Problem kam ich durch einen Fall in meiner eigenen Szene, in einer staatlichen Schriftstellerinstitution, deren Mitglied ich bin. Dort wurde sozusagen über Nacht ein unsinniges Dichterlesungsverbot eingeführt. Außenstehenden ist die Bedeutung der Details kaum vermittelbar, doch im Kern geht es um die Frage, ob Schriftsteller Befehle oder Verbote von Funktionären befolgen müssen. Ich war und bin überzeugt, dass nicht: Die Hierarchiefreiheit ist ja gerade der Witz der Schönen Literatur, und darin besteht auch ihre gesellschaftliche Funktion: Zu einer Welt der kollektiven Strukturen, Abhängigkeiten und Tabus eine freie Deutung des Lebens beizutragen. Diese Deutung ist weder richtiger noch wichtiger als andere Deutungen, bildet aber ein Gegengewicht, gewissermaßen als Anwältin der Seele. Der Seele entspringen – neben Wunderlichkeiten und Abgründen –auch wesentliche soziale Antriebe: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Vertrauen, Liebe, Schönheit, Sinn; und idealerweise nach einer Wahrhaftigkeit, die keiner Berechnung folgt. Deswegen wirkt sie in die Gesellschaft zurück, und deswegen wird die Literatur sogar vom Grundgesetz ausdrücklich vor Machteingriffen geschützt: Artikel 5 Absatz 3, „Die Kunst ist frei“. Das muss innerhalb von Institutionen ebenso gelten wie außerhalb.

Meine Kollegen hätten das Dichterlesungsverbot also leicht zurückweisen können. Wir waren in dieser ehrenamtlichen Institution ja keine Angestellten, sondern unkündbar auf Lebenszeit ernannt, und wir selbst hatten die Funktionäre aus unserem Kreis zu Sprechern gewählt, nicht zu Chefs. Wir hätten einfach sagen können: „Das muss ein Irrtum sein“ oder, nachdrücklicher: „Sorry, aber diesen Unfug machen wir nicht mit.“ Doch zu meinem Erstaunen wurde das Verbot akzeptiert. Einige Kollegen missbilligten es zwar, meinten aber, machtlos zu sein. Andere verteidigten es aggressiv. Meine Gesprächsversuche scheiterten: Je sorgfältiger und logischer ich argumentierte (ich gab mir wirklich Mühe), desto mehr Peinlichkeit, Unwillen und sogar Wut erzeugte ich und desto fanatischer unterwarf man sich dem Verbot. Obwohl nach Protesten formal abgeschwächt, wird es seit zehn Jahren befolgt.

Das hat mich aufgewühlt, aus zwei Gründen.

Erstens dachte ich: Seit tausenden Jahren ist bekannt, dass Macht das Verhalten und die Persönlichkeit der Menschen zum Unguten verändert. Ebenso lange ringt die Menschheit um Lösungen. Jetzt haben wir, nach fürchterlichen Katastrophen und Opfern, eine liberale Gesellschaftsordnung, die den Unmächtigen erlaubt, Mächtige zu kontrollieren. Aber sie trauen sich nicht. Offenbar liegt die Wurzel des Problems (derzeit, in Deutschland) weniger bei den Mächtigen als bei den Unmächtigen.

Zweitens wühlte mich auf, dass die Lösung so einfach erschienen war. Doch eine hermetische Magie schien alle Vernunft außer Kraft zu setzen. Mit hermetisch meine ich unzugänglich: Verdeckte Gewalt wurde mit großer Selbstverständlichkeit ausgeübt und hingenommen, indem man einfach nicht darüber sprach. So bildete sich ein Mikroklima, in dem die Normverletzung zur geheimen Norm wurde. Wer wagte, den Missbrauch anzusprechen, wurde selbst als Normverletzer behandelt. Das Phänomen schien so allgemein und überpersönlich zu sein, dass ich es untersuchen wollte; denn seine Bedeutung ging weit über unsere Akademie hinaus.



© Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 1.5.2022

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