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„Musik ist auch eine Religion“ Die Offenbarung nach John Coltrane

Das Album «A Love Supreme» gehört zu den Schlüsselwerken amerikanischer Musik. John Coltrane hat den Jazz hier als innige Messe zelebriert. Nun ist ein Live-Mitschnitt des Stücks erschienen. Von Ueli Bernays.

Damals war Gott noch lebendig. Jedenfalls in der Musik von John Coltrane, der seinen Glauben 1965 auf dem legendären Album «A Love Supreme» verewigte. Das mag die hymnische Wucht und Spannung erklären, die der stilbildende Jazzsaxofonist hier entfaltete. Seine vierteilige Suite wirkt wie ein musikalisches Gebet. Gesättigt mit Wahrheit und Wärme, verströmt sein Sound Melancholie und Trost. Und selbst heute noch weckt sein elegisches Spiel einen religiösen Nerv, den man durch weltliche Nüchternheit eigentlich für besiegt hielt oder jedenfalls für betäubt.



Was die technischen Fertigkeiten betrifft, haben die gelehrigen Nachfolger ihr Idol zwar eingeholt. Nicht wenige Saxofonisten imponieren unterdessen mit Virtuosität, stilistischer Beweglichkeit; selbst melodisch können die Besten dem Vorbild das Wasser reichen. Und doch bleibt John Coltrane unvergleichlich. Zwischen geistigen Höhen und emotionaler Tiefe entwickelte er eine schwer fassbare Spiritualität, die künstlerische Avantgarde und religiöse Demut vereinte. In den materialistischen Siebzigern hätte man seine Musik vielleicht als «New Age» verkauft. Doch der Saxofonist starb bereits 1967 im Alter von nur 40 Jahren.



Die Saat schien aufzugehen, John Coltranes künstlerische Selbstfindung und Selbstverwirklichung schien umzuschlagen in eine religiöse Kunst, die Standards setzte, Sinn stiftete und mehr und mehr Jünger fand. Letztlich hat die Zeit aber für Ernüchterung gesorgt. John Coltrane erweist sich als Prophet einer vergangenen Epoche. Als bahnbrechender Musiker immerhin reicht sein Einfluss bis in die Gegenwart.


© NZZ, Feuilleton, 3.11.2021

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