Mehr als 10 Neuveröffentlichungen waren anzuhören und ich habe davon meine Auswahl getroffen. Sie ist recht bunt geworden, mit der Betonung auf ungewöhnlich und herausfordernd. Ich hoffe das sie anregend für weiteres hören sein wird.

Paal Nilssen-Love Circus – Pairs of Three / PNL Records
„Pairs of Three“ ist das Debütalbum der neuen Band von Paal Nilssen-Love: Circus. Natürlich ist es in der Musikbranche, in der sich Nilssen-Love (frei) bewegt, nicht immer eine große Neuigkeit, einen neuen Act zu haben (wie gut die Musik auch sein mag), und auf den ersten Blick könnte dieser neue Act wie ein kleinerer Ableger des mittlerweile gut etablierten Flaggschiffs Large Unit aussehen – vielleicht ein spontanes Nebenprojekt, um einige Ideen zu erkunden, die innerhalb des Mutterschiffs entdeckt wurden – es wäre sicherlich nicht falsch, dies anzunehmen, da die meisten Mitglieder von Circus in den Reihen von Large Unit gedient haben oder derzeit dienen. Und das wäre eine absolut willkommene und unterhaltsame Ergänzung der sich ständig erweiternden Welt von Large Unit gewesen.
Aber nein. Circus ist ein ganz eigenes Biest. Hier taucht Nilssen-Love ganz in seine Liebe zur brasilianischen Musik ein. Das ist keine Überraschung, denn in der Vergangenheit gab es bereits mehrere Verbindungen, wie das Album New Brazilian Funk, eine hochoktanige Live-Aufnahme mit brasilianischen Musikern, die 2018 auf dem Roskilde-Festival entstand. Aber die Besetzung von Circus ist skandinavisch, und die Musiker, die Nilssen-Love ausgewählt hat, teilen eindeutig seine Leidenschaft für diese Musik, denn es handelt sich um Musik, die von einer BAND, gespielt wird.
Circus nehmen die Musik, die sie lieben, und tun das Richtige: Sie erkennen die Einflüsse und Ursprünge an, machen aber ihre ganz eigene Interpretation der Ideen. Es gibt viele Elemente auf dem Album, die eindeutig aus Nilssen-Loves vielfältiger Palette an Ausdrucksmöglichkeiten und Erkundungen stammen. Und diese Fähigkeit, Dinge zu vermischen, ist der Grund, warum ein neues Projekt von ihm immer eine gute Nachricht ist. Pairs of Three ist ein komplexes, bewegendes und intensives Debütalbum. Im November 2022 könnte man viel Schlechteres tun, als sich diesem Zirkus anzuschließen. © Text: Label

Lueenas – Lueenas / Barkhausen Recordings
Lueenas ist ein experimentelles Streicherduo, das 2019 von Ida Duelund und Maria Jagd gegründet wurde und in Kopenhagen (DK) lebt. Mit Geige, Kontrabass, Effekten und Verstärkern erschaffen sie gewaltige und wunderschöne Klanglandschaften voller panoramischer Erhabenheit. Ihre cineastische Ästhetik hat ihre Wurzeln sowohl im klassischen Minimalismus als auch in der improvisierten Rockmusik. Sie haben mehrere Filme, Serien und Kunstausstellungen vertont und u. a. mit Trentemøller, Kira Skov, Crush String Collective, Emma Acs, Coco O., Barbro, Jomi Massage und Folkeklubben zusammengearbeitet.
Intuition und Akzeptanz stehen im Mittelpunkt des Debütalbums des dänischen Streicherduos Lueenas. Sie erforschen die komplexen Räume zwischen den typischen emotionalen Dichotomien und ihre Sprache ist voll von fantasievollen Formen und Texturen.
Nach einem Jahr improvisierter Sessions und der Beteiligung an anderen Projekten aus den Bereichen Pop, Jazz, Elektronik, experimenteller und postklassischer Musik machten sich Maria Jagd und Ida Duelund daran, die verlockenden Klanglandschaften ihres selbstbetitelten Debüts zusammenzufügen. Das Experimentieren mit den Grenzen, die ihnen ihre Saiteninstrumente auferlegen, und das Verschieben der Grenzen zwischen akustischen, verstärkten und elektronischen Quellen ermöglichte es ihnen, aus einer viel breiteren und ausdrucksstarken Palette von Klängen zu schöpfen. © Text: Label

IN SITU ENS. – Same Place / Cubus Records
In Situ Ens. ist ein internationales elektroakustisches Ensemble, das Musik aus dem Augenblick heraus entwickelt. Die dynamischen Texturlandschaften entwickeln sich, während In Situ Ens. ihren Reichtum an unorthodoxen, erweiterten Spieltechniken nutzen, um dynamische Texturlandschaften zu entwickeln. Ein filigranes, vielzelliges Ensemble, dessen Klang ebenso viel explosive Kraft wie Tiefe und Schönheit enthält….
Ein wenig Geduld in dieser Zeit mit dem Raum der menschlichen Musik. Nur Materialien, Gegenstände, Kräfte, Bewegungen, Oberflächen, Berührungen, Resonanz, Beziehungen, Felder, Mikrokosmen der Zeit, kleine Lieder, die allein, aber gemeinsam singen, in Räumen imaginärer Lüfte, unantastbare Dimensionen, die zur Erkundung durch Zuhören einladen. © Text: Label

LOOM & THREAD – Island Grammar / Macro
Loom & Thread präsentieren eine Interpretation dieses klassischsten aller Sprungbretter der improvisierten Musik: das Klaviertrio. In der Tat schmieden Daniel Klein am Schlagzeug und Tobias Fröhlich am Kontrabass dieses höchst einnehmende, ineinandergreifende Gerüst, das in einem komplexen Nebeneinander zu dem steht, was aus der Ecke von Tom Schneider an den Tasten hervorgeht. Für sich genommen wäre dies ein wunderbar befriedigendes Dreieck aus flächigen Beziehungswundern. Fantasievolle Neuanpassung unerwarteter Verschiebungen, neu gruppiert zu kohärenten musikalischen Gedankenströmen. Hervorragende Klarheit trotz der unter Druck stehenden Formdichte, das Entstehen einer komplizierten Ordnung aus dem spontanen Spiel.
Und doch wäre dies eine völlig unvollständige Beschreibung. Denn rundherum öffnen sich wie Falltüren ein Dutzend Richtungen und Dimensionen und voneinander abhängige Schichten, die jeden ersten Eindruck eines vertrauten Zusammenhangs schon nach wenigen Sekunden des Hörens zerschlagen. Was wie eine Klavierimprovisation in der Post-Bop-Tradition anmutet, zeigt bald abrupte Unterbrechungen, unmögliche Verschiebungen, unwahrscheinliche Wiederholungen, Bewegungen in Frequenz und Dynamik jenseits der physikalischen Möglichkeiten eines als so vertraut geltenden Instruments mit fester Tonhöhe.
Wie das? Schneider sampelt sein eigenes Spiel und speist es kontinuierlich in den laufenden kollektiven Strom des Trios ein. Indem er den gesampelten Phrasen Ausgangspunkte zuweist, werden diese ebenso wie die darin enthaltenen Einzeltöne als eigenständige musikalische Ereignisse behandelt: Es entsteht eine zweite Ordnung des Zugriffs. Signifikant und Signifikat in den Händen ein und desselben Musikers, wodurch eine doppelte Ebene der Immanenz entsteht.
Diese Meta-Improvisation wird den beiden anderen Spielern zugeworfen, die sich nun in einer Art dreidimensionalem Schachspiel wiederfinden: Sie müssen sich gegen Simulakren zur Wehr setzen und auf beides reagieren, auf idiosynkratische primäre Tonphrasen und eine vibrierende Vielzahl von gesampelten Varianten. Reflexivität: Das Piano/Sampler-Kontinuum mit seinen vielschichtigen Zugängen zur improvisatorischen Kartierung attackiert und besänftigt die entsprechend kantige Rhythmussektion und reizt sie weiter. Eine wundersame Aufhebung der Kluft zwischen Mensch und Maschine. © Text: Label

EKKOFLOK – Mosaik / Clang
Hinter dem Pseudonym Ekkoflok verbirgt sich der 28-jährige Klangkünstler und Komponist Valdemar Kristensen. Valdemar ist ein grenzüberschreitender Künstler, der mit Neugierde die eigenen und fremden Grenzen dessen, was elektroakustische Musik ist, auszuloten. Sein Hauptinstrument ist ein selbstgebauter analoger modularer Synthesizer inspiriert von ähnlichen Geräten aus den 1970er Jahren. Darüber hinaus arbeitet er mit präparierten Instrumenten, Tonbandschleifen und selbst entwickelter Software.
Als Teil seiner künstlerischen Arbeit betreibt er den Copenhagen Music Maker Space am Blågårds Plads, eine offene Werkstatt zu dem Bau eigener Geräte (hauptsächlich Synthesizer) und Modifizierung vorhandener Elektronik. Der Copenhagen Music Maker Space wurde 2015 gegründet und hat eine große Anzahl von Workshops und Konzerte.
Ekkoflok lässt sich von der Begegnung zwischen Maschine und Mensch inspirieren, und er achtet darauf, was die Maschine zu sagen hat. Dieselbe Analogie lässt sich auch auf unsere digitalen Werkzeuge anwenden – sie diktieren letztlich die Möglichkeiten, die uns als Komponisten zur Verfügung stehen, und wie wir mit Klängen arbeiten und uns zu ihnen verhalten sollen – daher ist es für Ekkoflok wichtig, sowohl eigene Programme zu erstellen als auch bekannte Software auf neuartige Weise zu steuern. Dies eröffnet neue Möglichkeiten, neue Einsichten und nicht zuletzt neue Ergebnisse, bei denen die Gestaltung des Instruments zu einem zentralen Teil des kompositorischen Prozesses wird. Zwei Werke auf dem Album repräsentieren die extremen Enden dieses Prozesses: Auf der einen Seite ist Prepared for Spring ein Werk, das aus einer Improvisation auf einer präparierten Gitarre und einem Bandecho entstanden ist, während auf der anderen Seite Poly_Blip ein Werk ist, das durch mehrere Stufen der Neuinterpretation entstanden ist: Klänge wurden auf selbstgebauten, analogen Maschinen synthetisiert, dann aufgenommen, um dann zerschnitten und algorithmisch neu zusammengesetzt zu werden, bevor eine neue Improvisationsebene hinzugefügt wurde, um die Komposition zu vollenden.
Mehrere Schichten von alten und neuen Aufnahmen wurden kombiniert, von selbstgemachten und analogen Synthesizern bis hin zu Feldaufnahmen und mit digitalen Algorithmen erzeugten Klängen. Es ist ein Mosaik in anhaltender Zeit, d.h. jedes Steinchen im Mosaik mag relativ groß sein, aber seine Bewegung ist meist sehr fließend – ein Klang blendet ein, dann wieder aus, über und unter anderen Klängen, ohne unbedingt im Mittelpunkt zu stehen. © Text: Label

SAWAKO – Stella Epoca / 12K
12k freut sich, die Rückkehr der japanischen Künstlerin Sawako mit ihrer ersten Veröffentlichung auf dem Label seit Bitter Sweet (12k1047) aus dem Jahr 2008 und ihrem ersten Soloalbum seit Nu.It aus dem Jahr 2014 ankündigen zu können.
Stella Epoca bezieht sich auf die Sternenzeit und den Übergang in ein neues Zeitalter. Die Ideen von Himmelskarten und Planetenfrequenzen waren die Inspirationen hinter Sawakos traumhaften Klängen. Sie bezieht sich auf Umlaufbahnen, Schallwellen und Licht, die die Erde und alles Lebendige in ephemeren Begegnungen von Funkeln und Resonanz überziehen.
Sawakos Klang war schon immer fragil und amorph. Aquarellfarbe, die sublimiert und verblasst. Hier lässt sie acht Jahre an Erinnerungen und Aufzeichnungen in Klangschichten zusammenfallen, die den Körper für die himmlische Welt öffnen sollen. Mit generativen Kompositionsmethoden nahm sie Melodiefragmente an Vollmondtagen, Neumonden, Planetenkonjunktionen und anderen bemerkenswerten Himmelsereignissen auf. Ihre digitalen Klänge nehmen einen bescheidenen, menschlichen Klang an, während sie die Weite des Himmels beobachtet. © Text: Label
In gewisser weiße ist Paal Nilssen-Love mit seinen Projekten immer ein Garant für aufregende Musik. Egal, welches Gewand sie gerade trägt. Und mit Circus hat er eine neue Band, in der er seine Liebe zur brasilianischen Musik auslebt. Diese Band besteht zum größten Teil aus den Mitgliedern seiner Large Unit Band. Voller Energie stürzen sich alle in dieses neue Projekt und so ist es keine Überraschung, wenn ihre Musik so unendlich viel Spaß macht.
Lueenas ist das Duo von Ida Duelund und Maria Jagd. Seit 2019 arbeiten sie zusammen und sind damit sehr erfolgreich. Ihr erstes eigenes Album ist ein Füllhorn voller verschiedenster Lieder, die oft an Filmmusiken erinnern, welche alle Grenzen überwinden wollen und das gelingt ihnen wirklich gut.
Das Ensemble IN SITU ENS. Erschafft ihre Musik aus dem spontanen heraus. Für mich ist es immer spannend zu hören, wie sich diese Stücke aufbauen, wer mit wem interagiert, wie sie alle zusammenkommen. So funktioniert Improvisation.
Die Faszination für das Klaviertrio ist ungebrochen und es ist immer wieder höchst erstaunlich, was einem da an Neuem begegnen kann. Überraschend bei Loom & Thread ist hierbei tatsächlich das Live Sampling des Pianisten Tom Schneider, der fast permanent den Klang manipuliert und damit ganz wesentlich zum Klanggeschehen beiträgt. Ungewöhnlich, Überraschend und Herausfordernd!
Ekkoflok alias Valdemar Kristensen, der mit seinem selbstgebauten analogen modularen Synthesizer und eigener Software auf ganz anderen Pfaden wandelt, als die gängigen elektronischen Zeitgenossen, welche fast ausschließlich mit Sampling ala Ableton arbeiten, war für mich die größte Überraschung. Was er für Klanglandschaften präsentiert ist ungewöhnlich und man wird da gefordert. Hier klingt nichts nach gängigen Klangschemas oder ähnlichen, er geht da seinen ganz eigenen Weg. Respekt!
Zum Schluss Sawako. Auf der einen Seite sprechen mich ihre zarten, fast zerbrechlichen Sounds an und wieder ab. Irgendwie erinnert sie mich an Haco von After Dinner. Also, es ist nicht unbedingt mein Ding und der Blick zum Sternenhimmel hat da auch nicht wirklich geholfen, aber ich habe ihre Musik komplett gehört und das will schon was heißen.
Die meisten neuen Alben mache ich oft nach der Hälfte aus.
Ich möchte beim Hören herausgefordert, mit etwas ungewöhnlichem angesprochen oder überrascht werden, ich bin da schnell gelangweilt.
Wie bei der neuen Eno und dem Drücken der Del-Taste.