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Release Tipp: Magnetizdat DDR – Magnetbanduntergrund Ost / Broken Silence 

Da bekomme ich noch heute feuchte Augen und Ohren 😉 beim Hören dieser Compilation. Auch ich habe viele Jahre alles auf Magnetband mitgeschnitten und jetzt ist alles verloren. Gut, dass das hier nicht verloren ging. Denn es sind wunderbare Beispiele des magnetischen DDR-Untergrunds in seiner ganzen Bandbreite auf 3 LPs.


Im letzten Jahrzehnt der DDR fanden Punk und seine experimentellen Ableger Post-Punk, New Wave, elektronische Musik und Avantgarde-Rock sowie Pop dort ebenso wie in den nichtsozialistischen Wirtschaftsräumen Zuhörer und Täter. Das ideale Medium für diese Musik war auf beiden Seiten der Konfrontationslinie des Kalten Krieges etwas, das unabhängig produziert und vertrieben werden konnte: die Kassette – jenes Markenzeichen der 1980er Jahre, das in den letzten Jahren ein Comeback erlebt hat. In der DDR war diese Form der Musikverbreitung allerdings anderen Umständen geschuldet als im Westen: Während es sich für Bands und Musiker in London, Manchester oder West-Berlin um eine teils ideologisch begründete, teils ökonomisch vertretbare DIY-Euphorie handelte, standen der Subkultur in Ost-Berlin, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) oder Leipzig keine anderen Mittel zur Verfügung. Zudem bewegte man sich in der realsozialistischen Diktatur bereits mit der ersten kopierten Kassette auf illegalem Terrain, da alles inklusive Produktion und Vertrieb einer strengen staatlichen Genehmigung unterlag, was auch Druckerzeugnisse und Live-Auftritte betraf.


Erweiterter OrGasmus Foto: Reinhard Zabka

Doch jedes staatliche Regelwerk hat Grundregeln, die es zu ignorieren gilt. Das gilt auch für die DDR, verstärkt seit Ende der 1970er Jahre, als sich um den Maler, Grafiker, Bildhauer und Jazzmusiker A.R. Penck in Dresden, in Karl-Marx-Stadt mit der Künstlergruppe Clara Mosch oder im Soziotop des Ostberliner Arbeiterbezirks Prenzlauer Berg eine Szene entwickelte, die experimentell mit Sprache, Multimedia und Performance arbeitete. In diesen Szenen herrschte eine einzigartige Gegenseitigkeit. Dichter wie Bert Papenfuß, Stefan Döring und Leonhard Lorek traten mit Bands auf, die ihrerseits die barocke und experimentelle Poesie entdeckten. Super-8-Filmemacher und bildende Künstler griffen zum Mikrofon. Aus diesem Netzwerk heraus entwickelte sich das, was man treffend als „Magnetbanduntergrund“ bezeichnet: eine Underground-Kassettenszene, ein Magnetizdat, abgeleitet vom Samizdat (Selbstverlag) und Tamizdat (Fremdverlag) der sowjetischen Gegenkultur. Punk war der große Katalysator, und das Hören der Sendungen von John Peel war Pflicht für Menschen, die sonst allem Pflichtigen eher distanziert gegenüberstanden.


Anke Mehlhorn und Jörg Stein, circa 1987 Foto Charlie Köckritz

Die Protagonisten dieser Szene hatten sich sowohl ideologisch als auch ästhetisch längst vom Staat und seinen Vorgaben verabschiedet. Desillusioniert und oft auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit in den Westen, definierten sich diese Grenzgänger als unpolitisch bis hin zu antipolitisch. Sie verfolgten Selbstverwirklichungsstrategien durch ausgeklügelte Nischenexistenzen. In Nebenzimmern und Rückzugsräumen suchten sie verzweifelt nach Möglichkeiten der kreativen Selbstbehauptung und Kommunikation mit Klangrausch, Sprachwitz und Bastelleidenschaft. Getrieben von allgegenwärtiger Langeweile, aber ausgestattet mit viel Zeit und Freiheit von ökonomischen Zwängen und Möglichkeiten, arbeiteten sie ohne ein Endprodukt vor Augen.



Erst die Mitte der achtziger Jahre einsetzende teilweise Öffnung der staatlichen Medien und Kulturstätten, die aus der beginnenden Agonie des Systems resultierte, änderte die Bedingungen für das Handeln. Plötzlich wurden die illegalen Kassetten im Radio gesendet und im Palast der Republik, einem DDR-Tempel, der zugleich Parlament und Veranstaltungsort war, aufgeführt. Schließlich erscheinen sogar LPs der geduldeten „anderen Bands“ auf dem staatlichen Label AMIGA. Die Kulturpolitik der DDR hatte sich dieses Label ausgedacht, um die ästhetisch und ideologisch verpönten Begriffe wie „Punk“ nicht verwenden zu müssen.



Das stilistische Spektrum der Underground-Tape-Szene reichte von unorthodoxem Punk mit No-Wave-Tendenz, Lo-Fi-Experimental-Rock, eigenwilligen Pop-Designs, Darkwave, Neuer Sorbischer Kunst, Industrial, Art-Noise und antizipatorischem Post-Rock bis hin zu improvisierter Musik und Performance-Soundtracks sowie von der Avantgarde inspirierten Kompositionen.



Man kann von Pionierarbeiten sprechen, die Wirkung zeigten. Der Weg einiger Beteiligter führte zu international erfolgreichen Acts wie Rammstein, Tarwater und To Rococo Rot und dem Label Raster-Noton. Dennoch ist die „Zonic“-Sonderedition Spannung. Leistung. Widerstand. Magnetbanduntergrund DDR 1979-1990 (Verbrecher Verlag/ZickZack) wurde erst 2006 veröffentlicht und bot eine von Bernd Jestram, Bo Kondren, Ronald Lippok und Bert Papenfuß zusammengestellte Doppel-CD. Magnetizdat DDR, das Buch und diese Dreifach-LP, knüpft an diese Kombination aus Buch und Compilation an, die längst vergriffen ist. Die Auswahl balanciert zwischen selbst auferlegtem Forschungsauftrag und subjektivem Geschmack, mit der obligatorischen Hartnäckigkeit! Dass Magnetizdat DDR in Kooperation mit einer Initiative aus dem äußersten Westen Europas, der portugiesischen Datenbank Unearthing The Music, herausgegeben wird, ist eine schöne Ironie der Geschichte, die ansonsten keine Komödie ist.

© — Alexander Pehlemann, Ronald Galenza & Robert Mießner. Leipzig & Berlin, January 2023




Allein das zwölfseitige Booklet ist das Geld schon wert, all die Geschichten und Fotos! Auch für alle, die sich aufmachen und entdecken wollen. Ich bin Zuge dieser Veröffentlichung durch mein Platten- und Kassettenregal gegangen, auf der Suche nach Zeugnissen jener Zeit und war ganz aufgeregt dabei. Das dazugehörige Buch ist bestellt. Leider sind meine Magnetbänder bei einem Umzug verschwunden, aber ob sie heute noch zu gebrauchen wären, wer weiß.

Aber machen wir es kurz: Ich lade Euch ein, diese Musik zu entdecken und jenen Geist, hoffentlich, zu hören, der in ihnen steckt. Der Geist der Verweigerung, des Aufbruchs und der Hoffnung!





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