Nachhören

„Demokratie der Stimmen“ Eine Hommage an das Hören + Bonus

Christians Schüles Radio-Essay über das Hören ist eine Hommage an die Stimme, eine Annäherung an den Wert des Wortes und ein Plädoyer für das gute Sprechen in einer unerhörten Zeit. Als Bonus gibt es den kompletten Text von Stefan Fischer (SZ) zur Sendung.

100 Jahre wird das Radio in Deutschland alt – hat es sich deswegen überlebt? Nein, sagt Christian Schüle: ein unverbesserlicher Optimist, ein Boomer, der immer noch an alten Medien hängt? Seine Diagnose der Gegenwart fällt hart aus: Verlust und Verluste. Schlachtfelder, Kampfzonen sieht er allerorten. Draußen Krieg, drinnen Kampf. Der Mensch: isoliert, ratlos, auf der Suche nach einer Stimme. Die Gesellschaft: fragmentiert, zerfasert. Die einen radikalisieren sich, die anderen resignieren. Die einen schotten sich ab, die anderen begehren auf. Eine versöhnende Erzählung scheint nicht in Sicht, das Vertrauen der Menschen sinkt rapide.
Der Philosoph und Autor Schüle aber hat einen Traum. Er lautet: Wir hören. Wir hören zu. Wir hören hin, nicht weg. In seinem Traum hat der Hörfunk von allen Medien das größte Potential, das Projekt Aufklärung in eine vielstimmige Zukunft zu übersetzen. Der Hörfunk vereint alle Stimmlagen, Spielarten und Formen. Er öffnet Räume und bestellt Felder. Er ist flexibler und Genre-reicher als Magazin, Zeitung, Fernsehen und Social-Media-Plattformen es sein können. Er ermöglicht Ambivalenz und bietet Geborgenheit, ist distanziert und nahbar zugleich.



Was würde einen erwarten in dieser besonderen Stunde? Eine Klage-, eine Wut- oder aber eine Grabrede? All das wäre denkbar auf diesem Programmplatz, dem Nachtstudio, in dem Sendungen zu hören sind, die zum Klügsten und Wichtigsten im Radio-Angebot des Bayerischen Rundfunks zählen. Und das nun aber fatalerweise abgeschafft wird von der Sendeleitung des BR aus einem Modernisierungsdenken heraus, das auch im Kulturprogramm die Reichweite und das leichter Zugängliche allzu sehr ins Zentrum rückt.

Christian Schüle klagt jedoch nicht, er wütet nicht und er betrauert auch nichts und niemanden. Sondern: Er träumt. Seine Nachtstudio-Sendung Demokratie der Stimmen. Eine Hommage an das Hören ist eine Utopie, die sich aus der Erfahrung der Vergangenheit speist, dass Radio ein großes und vor allem eingehaltenes Versprechen sein kann. Das Nachtstudio im Radioprogramm von Bayern 2 ist eine der ältesten Sendungen des Bayerischen Rundfunks. Sie war und ist über die Jahrzehnte hinweg ein Ort für Debatten, die diesen Namen verdienen. Sie ist ein Raum für Autorinnen und Autoren, sich vertiefende Gedanken zu machen zu gesellschaftlichen Entwicklungen, zu kulturellen Themen von großer Tragweite. Schüle spricht in seinem Hörfunk-Essay vom „Radio als Kulturresonanzraum“.

Das absehbare Ende dieser Sendung, in der Woche für Woche über Haltungen debattiert und das soziale Miteinander verhandelt wird, in dem das Selbstverständnis unserer Gesellschaft auf dem Prüfstand steht, es erschüttert Schüle erstaunlicherweise nicht. Er pocht vielmehr auf seinen Optimismus und träumt deshalb von einer Zukunft des Hörens. Des Zuhörens, Anhörens, Hinhörens. Er träumt von einer Zukunft des Nachtstudios.

Das ist kein trotziger Behauptungswille. Es geht Schüle nicht darum, ob es das Nachtstudio von kommendem Frühjahr an, wenn Bayern 2 sein Programm hörbar umstrukturiert haben wird, in der bisherigen Form noch gibt. Es geht ihm um etwas Wichtigeres: um den Erhalt einer Streit- und Debattenkultur, in der Genauigkeit und Differenzierung wertgeschätzt werden als das, was sie sind: demokratiestiftend.

Schüle meint erst einmal gar nicht den Bayerischen Rundfunk, wenn er auf inhaltliche Verflachung verweist: „Eine zwitschernde und schreiende Gesellschaft ist keine hörende mehr“, so der Autor. Zuhören koste Zeit, immer weniger Menschen seien jedoch bereit, diesen Preis für Verständigung zu zahlen. Lieber rede man selbst: „Man hört nicht mehr hin und zu. Sondern reagiert, kommentiert, es wird be- und gewertet. Gerne im Superlativ.“

Aber schon die folgende Bemerkung Schüles zielt auch nach innen, in den Sender hinein, dessen Verantwortliche für die Zukunft mehr Vertiefung im Kulturprogramm ankündigen, ohne bislang konkret zu werden, und vorerst nur schon einmal dem Nachtstudio den Garaus machen. „Es scheint ja immer ungehöriger“, so Schüle, „auf der Hochschwelligkeit von Reflexion zu bestehen, weil hinter der hohen Schwelle sogleich Elite vermutet wird, der man, ohne es begründen zu können, schiere Volksverachtung unterstellt. Aber fordert Demokratie, diese höchst anspruchsvolle Form der Selbstgestaltung, nicht genau das: Reflexion und Lernfähigkeit?“

Sehr klar in seinen Argumenten legt Christian Schüle dar, wie unerlässlich ein von Quotendenken, Überforderungsängsten und Denkfaulheit freies Kulturprogramm für den Erhalt der Demokratie ist. Und wer sollte ein solches zuvorderst anbieten, wenn nicht die beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sender? Immer niederschwelliger werden zu wollen, führe zu einer Nivellierung von Kontexten, zu glatt polierten Oberflächen, auf denen nichts mehr haften bleibe. „Wer keinen Anspruch mehr anbietet, schafft keine Nachfrage nach Anspruch. Weshalb er selbst irgendwann keinen Anspruch mehr hat, Anspruch anzubieten.“

Letzten Endes reitet Christian Schüle in diesem Nachtstudio-Essay eine harte Attacke gegen den BR, in dessen Programm diese Sendung ausgestrahlt wird. Oder läuft er offenen Armen entgegen? Die Verantwortlichen wollen ihre Reformideen jedenfalls verstanden wissen als Wasser auf Schüles Mühlen. Christian Schüle hat seine Erwartung an die Sendeleitung formuliert. Und er legt dar, wie gerechtfertigt sie sind.

© Süddeutsche Zeitung, 23.10.2023


Demokratie der Stimmen
Eine Hommage an das Hören
Von Christian Schüle
BR 2023

© Bayern2, Nachtstudio, 24.10.2023

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