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Essay: Der Schatten – Kulturgeschichte einer Metapher

Von Sabine Appel. Schatten suchen wir im Sommer, und eigentlich immer wieder in der Sprache unseres Alltags. Wir sehen die Schattenseiten des Lebens oder der Globalisierung. Bedeutende Ereignisse werfen ihren Schatten voraus. Doch was macht die Metapher des Schattens so bedeutsam?

Da der Schatten immer in Beziehung zum Licht gedacht wird, ja ohne dieses gar nicht existieren würde, haftet ihm immer etwas Minderwertiges an, etwas Dubioses, Dunkles. Wir sprechen von Schattenkabinetten und Schattenbanken. Und nicht selten bezeichnen die mit dem Wort Schatten kombinierten Orte oder Begriffe Einflusssphären, in denen heimlich agiert wird, intransparent, hinter verschlossenen Türen.
Schattenbilder selbst gelten oft als Trugbilder. Platon beschreibt diesen Tatbestand in seinem Höhlengleichnis. Hier liegt der Ursprung aller komplexen Bedeutungsassoziationen in Bezug auf den Schatten als etwas Unwahrem, das uns aber eine vermeintliche Wirklichkeit vorgaukelt. In der antiken Mythologie wurden zudem die Toten in der Unterwelt als Schatten bezeichnet.
Die Aufklärung wollte die Schattenbilder vertreiben und überwinden wie alles Irrationale, das den Aufstieg zum reinen Licht, zur Mündigkeit und zur geistigen Freiheit vereitelt. Zugleich aber regten im 18. Jahrhundert die „Schattenrisse“ im Halbprofil, die allenthalben erstellt wurden, zu einer eifrig betriebenen Charakterdeutung an. Lavaters Physiognomik ist ein entsprechendes Phänomen dieser Zeit. Fast hat es den Eindruck, als wohne dem Schatten wie dem Licht eine erkenntnisstiftende Kraft inne. Es ist offenbar höchste Zeit, den Schatten einmal ins Licht unserer Aufmerksamkeit zu rücken.




Sabine Appel, geboren 1967, promovierte 1995 an der Universität Heidelberg. Sie ist freie Buchautorin mit Schwerpunkt Europäische Ideengeschichte. 13 Publikationen, u.a. über Goethe, Nietzsche und Schopenhauer, Luther und Heinrich VIII., Katharina von Medici und Madame de Staël. Zuletzt erschienen: „Unser Rousseau. Wie ein Genfer Uhrmachersohn die Aufklärung überwand und sie damit vollendete“ (Berlin 2021).

© Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 23.6.2024

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