Best of 2022: Jochen Kleinhenz

Wieder ein Jahr vorbei, wieder eine Liste … manchmal beneide ich Menschen, die regelmäßig mit Neuerscheinungen bemustert werden, denn dann bekommen sie entweder tatsächlich etwas Neues, noch nie Gehörtes auf den Tisch (eher selten), oder sie bekommen zumindest die Bestätigung, dass das, was sich schon auf älteren Tonträgern in ihrer Sammlung findet, immer noch aktuell ist (eher häufig).

Wer, wie ich aktuell, die Schlagzahl beim Tonträgerkauf deutlich reduziert hat (da jedes neue Stück, neben der bereits ordentlich vierstelligen Zahl unterschiedlicher Tonträger, um den endlichen Platz in der Wohnung kämpft), kann nicht mehr viel »neues« entdecken.
Was mich heute fast mehr umtreibt als die Suche nach Neuem, ist die Frage, ob ich mir Zappas »Waka/Jawaka« sowie »The Grand Wazoo«, seine beiden »Jazzrock«-Alben von 1972, nochmal auf neuem Vinyl zulegen soll (meine beiden Vinylexemplare sind eher durchschnittliche Pressungen, die beiden CD-Exemplare »nur« CDs …) oder doch als (eigentlich ungeliebte) CD-Wiederveröffentlichung im Sonderformat (5 Discs inkl. Outtakes etc.) … und folglich die Frage, ob ich tatsächlich als Musikhörer schon der alte weiße Mann bin, wie der ich hier klinge.

Ich teile die Liste in zwei Hälften: Neuerscheinungen, Wiederentdeckungen im Bestand.

Neuerscheinungen 2022 – alphabetisch und fast durchgängig in Heavy Rotation:

Ja, ich kaufe auch Kassetten – vor allem beim Tapeworm-Label, das regelmäßig eine Handvoll veröffentlicht, etwa 160 in 14 Jahren. Ich hab sie alle (bis auf zwei, die nur bei Konzerten in London zu haben waren), und noch mehr als der Stilmischmasch fasziniert mich der gute Klang der Ferrobänder. Diese hier nenne ich mal exemplarisch: IDM/Electronica, die ein wenig nach den 1990ern klingt – passend dazu das (auf jeder Kassette variierte) Bonmot »I am listening to Autechre in my pants«.

Verrückt: So mainstream kaufe ich selten ein, noch dazu eine völlig überteuerte DoLP, deren gesamter Mehrwert (12″-Booklet, Poster) mich überhaupt nicht interessiert, ja eher abstößt (zuviel Bling-Bling, zuviel inszenierte Halbnacktheit, zuwenig Text). Trotzdem: R&B bzw. Pop in Vollendung, auf der Höhe der Zeit, noch dazu stimmig aufgebaut über vier LP-Seiten. Für mich als Neuling: Eine erstaunliche Stimme auf perfekten, gar nicht mal so glatten Arrangements. War eine Fährte des Zündfunks, die mich in einen musikalischen Raum geführt hat, den ich noch nicht kannte und in dem ich einige Vorurteile abbauen konnte. Die Platte ist allerdings so grandios, dass ich mich damit gerne begnüge und nicht tiefer in diesen Raum vordringen möchte … aber gut, dass er da ist.

Soundtrack-Qualität, ideal für dunklere Stunden (womit das Licht, nicht die Stimmung gemeint ist). Ich war immer schon ein großer Fan von solchen Klängen, die sich erst flächig ausbreiten und dann in alle Ritzen kriechen. Vor allem die harmonischeren Stücke und das deutliche Schimmern von Dur-Akkorden überzeugen – man hört eben doch, dass dieser Musik ein Dialog zugrundeliegt (Steven Hess, Perkussion & Michael Vallera, Gitarre), auch wenn ich Perkussion und Gitarre nicht wirklich akustisch identifizieren kann.

Sorry, aber: Er ist einfach der beste deutschsprachige Performer! Live (vor etwa 15 Jahren gesehen und kennengelernt) ein Stimmungsgarant, musikalisch mit allen Wassern gewaschen – Zitate ohne Ende, nichts klingt originär, aber alles originell und mit der richtigen Dosis Humor aufbereitet und vorgetragen. Und da er nicht Album um Album raushaut, bleibt immer soviel Pause zwischen den Veröffentlichungen, dass ich mich an jedem neuen Album freuen kann, als ob ich so etwas noch nie gehört hätte. Gute Musik für gute Laune.


Auf Wiederhören …

Auch wenn ich mein fortschreitendes Alter noch halbwegs ignorieren kann (obwohl die ersten Zipperlein sich verstetigen, leider), so signalisieren mir die Todesanzeigen meiner Favoriten doch, dass nichts für die Ewigkeit ist: Pharoah Sanders hatte mit 82 Jahren sicher ein stattliches Alter erreicht (1940–2022), Philip Jeck (1952–2022) hätte ich nicht nur seinen 70. Geburtstag gegönnt, sondern noch einige mehr … beiden habe ich in diesem Jahr deshalb noch mal mehr Gehör geschenkt als sowieso in den Jahren zuvor.
Im Zuge einer kleinen Digitalisierungsoffensive (in meiner 10″-Sammlung) lief auch Lol Coxhill (1932–2012) in diesem Jahr wieder vermehrt – solo (The Inimitable, Before My Time) und als Melody Four (zusammen mit Steve Beresford und Tony Coe).
Da das Leben voller Brüche ist, auch hier ein krasser Bruch: Wieder mal durchgehört durch das frühe Oeuvre von Alan Jourgenson von 1986–90: Natürlich Ministry (»Twitch«, »Land Of Rape And Honey«), aber auch Lard, Pailhead, 1000 Homo DJs, Acid Horse und vor allem Revolting Cocks. Immer wieder eine erfrischende Vollklatsche auf die Ohren, gerade bei den Nebenprojekten zu Ministry blitzt doch auch ein erfrischender Humor auf, auch die Gastmusiker sind nicht ohne (nein, gendern muss ich hier nicht: Männer, Männer, Männer) – alles Spätere von ihm ist dann aber bloß noch obsolete Rockermucke, auf die ich gerne verzichte.


Jeder, der in den Randbereichen der Musik unterwegs ist und Musikmagazine wie Bad Alchemy, Testcard, oder eine Kulturzeitschrift wie „Nummer“ schon mal in der Hand hatte, wird Beiträge von Jochen Kleinhenz gelesen haben. Über u.a. :Zoviet France, David Toop, The Hafler Trio oder empreintes DIGITALes hat er geschrieben. Seine Webseite Tricktaste kann ich nur wämstens Empfehlen.

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