Die Musik von Franz Schubert oder Gustav Mahler ist ohne die alpenländische Volksmusik kaum wirklich zu verstehen. Der Einfluss von Ländlern, Walzern und Volksliedern auf diese Liedkomponisten ist nicht zu unterschätzen. Von Berthold Seliger
Und ähnliche Einflüsse der Musik des Volkes auf die sogenannte »ernste« Musik, also auf die Hochkultur, kann man auch schon bei Mozart erleben, oder bei Chopin, der ein begeisterter »Mazurek«-Spieler und wohl auch Tänzer war, der in den Dörfern um Szafarnia, wo er mehrfach seine Schulferien verbrachte, den einsaitigen Bass schlug, wenn die Kapelle den Tanzboden bespielte. Oder denken wir an Béla Bartók, den eifrigen Sammler von Liedern und Tänzen Ungarns, Rumäniens und Bulgariens. In den 1980er Jahren griff die Musikerinitiative ARFI (Association à la Recherche d’un Folklore Imaginaire) in Lyon den von Bartók geprägten, schönen Begriff der »imaginären Folklore« für eine »erfundene« neue Volksmusik auf – eine Musik, in der Alpenländisches auf Duke Ellington oder Ornette Coleman und afrikanische Musik auf die des Balkan, auf Kurt Weill, auf osteuropäischen Klezmer oder auf etwas völlig Neues, ungehörtes treffen kann.
Durch derartige Kunstgriffe schaffen sie dort, wo es wichtig ist, eine karge Stille und lassen die Musik ganz zu sich kommen. Das derzeit häufig interpretierte Schubertsche »Du bist die Ruh’« (Friedrich Rückert, dessen Gedichte auch Mahler vertont hat) singt Boesch mit größtmöglicher Simplizität – ihm gelingt hier das Einfache, das laut Brecht so schwer zu machen ist. Die dritte und vierte Strophe intoniert er ebenso wie die Wiederholung der Schlußstrophe eine Oktave höher, sein Gesang wird fragil, Seiler schreibt, dass er den Zuhörerinnen und Zuhörern »sein Herz auf beiden Händen darbietet«, was fast schon wieder zu pathetisch formuliert ist.
Franui und Florian Boesch geben uns mit »Alles wieder gut« eine Ahnung von diesem Traum. Eines der herausragenden Alben unserer Zeit, das von der Musik (und dem Leben) als einer Utopie erzählt, die ebenso weit in die Zukunft schaut wie in die Vergangenheit.
© Junge Welt, JW-Wochenendgeschichte, Ausgabe vom 23.01.2021