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„Die Läuterung des Belcanto“ 52. Deutsches Jazzfestival im Rückblick von Wolfgang Sandner

Den Künstlern beim 52. Deutschen Jazzfestival in Frankfurt ist anzusehen, dass sie das Spielen vor richtigem Publikum vermisst haben. Vielleicht auch deshalb besinnen sie sich auf das menschlichste Instrument: die Stimme.

Welch ein Glücksgefühl muss das sein, nach Monaten des Brachliegens und des Konzertsurrogats „Streaming“ wieder auf einer Bühne stehen zu können. Vor Publikum. Mit Applaus, den man nicht aus dem Off zugespielt bekommt wie in gewissen Retortenshows des Fernsehens. Zwar hatte der Sendesaal des Hessischen Rundfunks beim 52. Deutschen Jazzfestival Frankfurt noch immer die Anmutung eines Sicherheitstrakts, den das Publikum nur nach einem langen Parcours aus engen Schleusen betreten konnte. Zudem zeigte das Schachbrett mit besetzten und freigelassenen Plätzen im Saal unmissverständlich an, wie weit man noch vom normalen Spielbetrieb entfernt ist. Aber den Akteuren merkte man die Freude am Live-Ereignis sichtlich an, den Sängerinnen und Sängern im Besonderen, deren angeborenes musikalisches Instrument noch humaner zu wirken schien, als es den Stimmbändern ohnehin von Ästhetikern wie Historikern immer schon attestiert worden ist.

Die geläufigen Gurgeln bildeten das Zentrum des musikalischen Geschehens und signalisierten fast so etwas wie eine Renaissance des Belcanto im Jazz; eines Schöngesangs allerdings, der durch das Purgatorium der Avantgarde gegangen ist. Das galt vor allem für Andreas Schaerer, der bei Dieter Schnebels Maulwerkern und jodelnden Schweizer Sennerbuben gleichermaßen Stimmbildung betrieben haben muss. Mit seinem urkomischen, gleichwohl seriösen Sextett „Hildegard lernt fliegen“ hat der Mann aus Bern schon vor Jahren demonstriert, dass die Vokalakrobatik im Jazz bei Al Jarreau, Bobby McFerrin oder David Moss noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist. Unterstützt vom Akkordeonisten Luciano Biondini, dem Gitarristen Kalle Kalima und dem Schlagzeuger Lucas Niggli, entfachte dieser Zeusler unter den geläuterten Belcantisten mit seinen aberwitzig aufgeschichteten Zisch-Schnalz-Knacklaut-Phrasierungen eine wahre Feuersbrunst an jazzmusikalischem Ausdruck.



© FAZ, Feuilleton, 2.11.2021


Folgende Konzerte können nach gehört werden, Pablo Held (nur Audio) folgt heute Abend, die anderen kommen Morgen.

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