Musiktipps

„Gérard Grisey auf CD“ Ein Musiktipp von Max Nyfeller

Das WDR-Sinfonieorchester hat bei bastille musique drei Orchesterwerke des französischen Spektralisten Gérard Grisey aufgenommen. Das Ergebnis ist ebenso staunenswert wie mustergültig.

Als Piero della Francesca in der Frührenaissance das Fresko „Madonna del parto“ anfertigte, konnte er sich nicht vorstellen, dass über fünfhundert Jahre später ein französischer Komponist sich davon zu einem kongenialen Orchesterwerk inspirieren lassen würde. Und umgekehrt mag heute für manche schwer nachvollziehbar sein, dass ein Komponist wie Gérard Grisey auf diese „Madonna der Geburt“ zurückgriff, war er doch in den Siebzigerjahren ein veritabler Avantgardist gewesen, ein Mitbegründer der damals neuen Kompositionspraxis des Spektralismus. Doch bei dem 1998 früh verstorbenen Komponisten weckte das Bild gleich ein doppeltes Interesse. Grisey, dessen Katholizismus sich im Laufe des Lebens zu einem umfassenden Religionsverständnis erweiterte, sah im Mysterium der Jungfrauengeburt offensichtlich ein zeitloses, lebensbejahendes Thema, zudem appellierte die geometrische Anlage des Madonnenbildes an sein konstruktivistisches Denken.

Diesem dialektischen Spannungsverhältnis von Glaube und Rationalität verdankt sich der Titel von Griseys Spätwerk: „L’icône paradoxale“. Mit der Sopranistin Katrien Baerts, der Mezzosopranistin Kora Pavelić und dem WDR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling ist es nun zusammen mit zwei weiteren musikalischen Marksteinen in Griseys kompositorischer Entwicklung in einer mustergültigen Einspielung auf CD erschienen.



© FAZ, Feuilleton, 10.9.2023



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