Jiří Stivín ist kein Saxophonist, der gelegentlich Flöte spielt, sondern unwiderruflich Flötenspieler. Als solcher hat der Autodidakt Wurzeln in der Tiefe der Musikgeschichte, vom Barock bis zum Jazz. Nun wird er achtzig Jahre alt. Von Wolfgang Sandner.
Doch, doch, es gibt sie, die Fotos mit Fliege und Smoking, poliertem Kahlkopf und glattrasiertem Gesicht, auf denen Jiří Stivín aussieht wie Jeff Bezos, der gerade strahlend von einer Wohltätigkeitsveranstaltung kommt. Die meisten Abbildungen zeigen ihn jedoch mit notorischer Schiebermütze, Stoppelbart, Schlabberlook und schicksalszerfurchter Miene. Gerade so wie einen Clochard, der sein angestammtes Quartier unter irgendeiner Seine-Brücke nur dann verlässt, wenn er mit seiner abgewetzten Blockflöte auf der Rue de la Huchette ein paar Sous für eine neue Flasche Rotwein sammeln muss.
Der tschechische Jazzmusiker Jiří Stivín pflegt sein Image des liebenswürdigen Bohemiens schon lange. Eigentlich kennt man ihn nur, wie er verschmitzt eine Nasenflöte spielt, zwei Rohrblattinstrumente in den Mund steckt, als sei er ein antiker Aulos-Spieler, meist aber, wenn er mit einer Querflöte über die Bühne stakst, unter dem tiefen Schirm seiner viel zu großen Mütze listig hervorblinzelt und wunderbare Jazzphrasen von sich gibt, sinnlich melodiös, bisweilen einfühlsam den Volkstönen seiner böhmischen Heimat auf der Spur und immer mit enormem rhythmischen Drive.
FAZ, Feuilleton, 23.11.2022