Release Tipps

Jochen Kleinhenz – Release Tipp: Titanoboa: Seth / A-Musik

Wenn ich Namen zum ersten Mal lese oder höre, kann durchaus ein falscher Eindruck entstehen: Hier ist die Namensgeberin eben nicht ein Blasinstrument aus ultraleichtem, strapazierfähigen Metall (Titan-Oboa), sondern eine Schlange aus dem Paläozän (Titano-Boa), deren Gesamtlänge auf 13 Meter und das Gewicht auf mehr als eine Tonne geschätzt wird anhand der Funde in Kolumbien (laut Wikipedia).


Warum Melani Wratil ihr Projekt so nennt, erschließt sich möglicherweise beim Hören: Die Klänge schieben sich stoisch in und durch den Raum, schlangengleich und bei der Länge oft Anfang und Ende vergessen lassend, und wirken diese schlängelnden Bewegungen bei kleineren Schlangen durchaus leicht und elegant, so sind es hier die schiere Größe des Ungetüms Titanoboa und also die Verzerrungen und Veränderungen in den Stücken auf »Seth«, die diese Leichtigkeit und Eleganz vergessen machen und uns Hörer:innen malmend, stampfend, dröhnend und auch hin und wieder schreiend (wie bei »6OG«) zur Seite drängen. A propos »drängen«: Gegenüber dem Vorgänger »Porphyr« (Debut-LP, ebenfalls A-Musik 2021) hat der Sound nochmal an Präsenz zugelegt, öfters kam mir der Begriff »Mahlstrom« in den Sinn, ruhigere Momente oder Dur-Akkorde finden sich hier kaum, dafür unzählige Exkursionen in Noise, die überzeugendste meiner Meinung nach im Track »auki«.

Seit Lou Reeds »Metal Machine Music« (1975) muss wohl jede Generation Noise und Feedback neu für sich entdecken – wer hier bemängelt, dass Krach halt immer nach Krach klingt, überhört allerdings, dass auch im melodischen und harmonischen Bereich der Musik seit Jahrzehnten kaum Neuland betreten wurde und die immer gleichen Themen – musikalisch und textlich leicht variiert – tagaus, tagein wiedergekäut werden. Von daher liegt eine gewisse Ehrlichkeit in den Tracks auf »Seth«, die in sich die klanglichen Motive wiederzukäuen scheinen wie im Track »Ilk Dördün«, wo Schleifen klassischer Musik erkennbar werden, dramatische Streicher, denen Titanoboa mit jeder Wiederholung mehr zu Leibe rückt, verschluckt und wieder hochholt …



… wer einen Einstieg in die Noise-Musik sucht und den blanken Lärmwänden à la Merzbow, New Blockaders oder Organum nichts abgewinnen kann, sollte sich einmal hieran versuchen. Leichte Kost ist das trotzdem nicht.

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