Als Bandcamp Album des Tages stellt John Morrison das neue Album von James Brandon Lewis vor. Eine sehr gute Wahl, wie ich finde oder kurz: Das ist eine überragende Veröffentlichung. Ich habe den Text von John mal ins Deutsche übertragen.
Der improvisierte Tanz zwischen Jazzmusikern während eines Auftritts ist im Grunde ein Gespräch. Dieser reichhaltige und spontane Akt der Kommunikation ist das schlagende Herz von Eye Of I, dem neuesten Album des Tenorsaxophonisten James Brandon Lewis und seines Trios, bestehend aus Chris Hoffman am Cello und Schlagzeuger Max Jaffe. Das Album beginnt mit „Foreground“, einem kurzen, mitreißenden Intro, das den Hörer in seinen swingenden Groove hineinzieht, bevor es sich wieder auflöst. Es ist der erste Höhepunkt in einem Album voller unerwarteter Ereignisse.
Mit „Someday We’ll All Be Free“ nimmt sich das Trio Donny Hathaways aufmunternden R&B-Klassiker von 1973 vor. Der Text wurde von seinem Freund Edward Ulysses Howard geschrieben und sollte Hathaway, der mit seiner nachlassenden geistigen Gesundheit zu kämpfen hatte, mit seiner aufrichtigen Botschaft des Durchhaltevermögens trösten. In den Händen von Lewis und dem Trio verwandelt sich „Someday We’ll All Be Free“ in einen langsamen Marsch, dessen emotionaler Ton irgendwo zwischen Trauer und widerstrebendem Optimismus liegt. Jaffes Schlagzeugspiel ist hier besonders ausdrucksstark und sorgt sowohl für rhythmischen Antrieb als auch für klangliche Farbe, während Lewis jedes bisschen Schmerz und Freude aus Hathaways Melodie herauskitzelt.
Von hier aus gleitet die Band in „The Blues Still Blossoms“, ein langsames Stück, das vor emotionaler Tiefe nur so strotzt. Zu Beginn des Stücks gibt Lewis die Hauptmelodie vor, bevor Hoffman die Aussage wiederholt, und die beiden reagieren und spielen mit Geduld und Anmut gegeneinander. „Middle Ground“ und der Titeltrack des Albums, Eye Of I“, treiben die Energie auf dramatische Extreme hinauf. In beiden Stücken schneidet Hoffmans verzerrtes Cello durch das von Jaffe und Lewis heraufbeschworene Klanggewitter, während die Band punkartige Höhen an Lautstärke und Intensität erreicht. Bei „Eye Of I“ ist die Fähigkeit des Trios, zuzuhören, zu improvisieren und zu reagieren, selbst inmitten eines solch gewaltigen Sturms beeindruckend. Die Musik hier klingt brutal und abstrakt, aber nicht beliebig.
Während seiner 44-minütigen Laufzeit zeigt Eye Of I, dass die Kommunikationsfähigkeit, die den Jazz definiert hat, bei unseren besten jungen Musikern immer noch stark ausgeprägt ist. Indem sie sich der Praxis des authentischen musikalischen Ausdrucks in Echtzeit verschrieben haben, begleiten James Brandon Lewis, Max Jaffe und Chris Hoffman einander durch das kreative Abenteuer der Improvisation und kommen auf der anderen Seite lebendig wieder heraus. © Text: John Morrison für Bandcamp
© Bandcamp, Album of Today, 6.2.2023