R.I.P.: Wayne Shorter: ein Schamane des Klangs, ein Mystiker der Harmonie

Er zählte zu den stilbildenden Jazzsaxofonisten. Sein lyrisches Spiel war so faszinierend wie seine schillernden Kompositionen. Am Donnerstag ist Wayne Shorter im Alter von 89 Jahren gestorben. Von Ueli Bernays.

Leidenschaft muss nicht lodern und gleich wieder vergehen. In der temperierten Dynamik von Konzentration und Meditation treibt und keimt sie länger, leuchtet und blüht sie heller. Wayne Shorter war vielleicht durch seinen introvertierten Charakter und seine Gleichmut gefeit gegen das verzehrende Feuer. Vielleicht aber lernte er die Gefahren gleich zu Beginn seiner Karriere kennen und zu bannen. So verschwendete er seine künstlerischen Energien nicht an expressive Extreme und behielt die künstlerische Souveränität auch noch in berauschenden Momenten.

1933 in Newark, New Jersey, geboren, versuchte er sich mit sechzehn Jahren auf einer Klarinette, um in den frühen fünfziger Jahren zum Tenorsaxofon zu wechseln. Bald empfahl er sich der ersten Garde der Jazzszene, die damals unter dem glühenden Stern des Bebop-Saxofonisten Charlie Parker stand. In existenzialistischem Furor hatte sich Parker nicht nur mit Leib und Seele der Musik verschrieben. Er suchte die Potenzierung seiner Vitalkräfte überdies in allen möglichen Rauschmitteln, die ihn allmählich um den Verstand und 1955 um sein Leben brachten.



Breiter Pinsel, üppige Farben

Viele Jazzmusiker versuchten sich Charlie Parkers Expressivität mit Drogen zu erschleichen; ganze Generationen erlagen Missbrauch und Sucht. Auch der Saxofonist John Coltrane hatte sich erst von den Drogen lösen müssen, bevor er sich als Leader bewähren und die Jazzszene in Richtung freierer Spielweisen vorantreiben konnte.

Unter seine Schüler mischte sich in den frühen fünfziger Jahren auch Wayne Shorter. Die beiden übten bisweilen sogar zusammen. Aus Shorters frühsten Aufnahmen kann man von der hitzigen Virtuosität auf Coltranes Einfluss schliessen. Der weiche, sanfte Tenor-Sound aber lässt bereits an einen breiten Pinsel und üppig-tropfende Farben denken.



© NZZ, Feuilleton, 2.3.2023


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