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Release Date 9.6.2023: Liv Andrea Hauge Ensemble, Theodore Cale Schafer, Werner Dafeldecker und Solo Andata

Wir erfahren etwas über die unglückliche Liebe zu einem Narzissten, begleiten einen jungen Amerikaner auf seinen Streifzügen durch die Stadt, machen später eine Reise in neuronale Netzwerke und folgen dann zwei Musikern, die ihre Musik aus einer Vielzahl von Materialien, Fundstücken, zu etwas neuem entwickeln.

Es waren wieder viele Releases für den 9.6.23 und deshalb bin ich auch schon über die Zeit oder ich nehme mir einfach zu viel vor… Am Schluss, findet ihr all jene, für die meine Zeit nicht gereicht hat. Und das ist vor allem keine Wertung.



Liv Andrea Hauge Ensemble – Hva nå, Ekko? / ODIN Records

Hva nå, Ekko? („Was nun, Ekko?“) erzählt die Geschichte von Ekko, die unglücklich in Narcissus verliebt ist. Sie folgt ihm auf Schritt und Tritt und hat weder eigene Gedanken noch eine eigene Meinung. Nach einer Weile kommt ihr das sinnlos vor, und Ekko beginnt sich zu fragen, was passiert, wenn sie aufhört, das zu wiederholen, was andere Leute sagen. Was soll sie dann sagen? Und muss sie Narziss folgen, der sich sowieso nur um sich selbst kümmert? Die Musik erforscht Ekkos Gefühle und Möglichkeiten, und die Unvorhersehbarkeit der improvisierten Musik ist eine Parallele zu einem Echo, das frei spricht. Was geschieht dann?


Liv Andrea Hauge Ensemble

Hva nå, Ekko? ist ein Auftragswerk von Liv Andrea Hauge, geschrieben für Festspiele in Helgoland 2022. Die Ambition hinter dem Werk basiert auf der Erforschung der Improvisation in einem größeren Jazzensemble. Es wurde von Liv Andrea Hauge komponiert und wird von einigen der besten jungen norwegischen Jazzmusiker aufgeführt: Ragnhild Moan, Signe Emmeluth, Torstein Lavik Larsen, Marte Eberson, Fredrik Luhr Dietrichson und Andreas Winther. Ausgehend von Liv Andrea’s Kompositionen und kollektiven Improvisationen erscheint das Werk als ein kollektives Projekt, das von einer engen Interaktion geprägt ist, und während des einstündigen Werkes ist es bemerkenswert, wie sehr die Musiker es genießen, miteinander zu spielen.


Liv Andrea Hauge

Liv Andrea Hauge ist eine in Oslo lebende Musikerin, die ursprünglich aus Mosjøen in Nordnorwegen stammt. Sie hat an der Norwegischen Musikakademie Jazzklavier studiert und trotz ihres jungen Alters und ihrer noch jungen Karriere mit Bands wie dem Kongle Trio und dem Ladybird Orchestra der norwegischen Musikszene ihren Stempel aufgedrückt. Im Jahr 2022 veröffentlichte sie das Album Live From St.Hanshaugen mit Liv Andrea Hauge Trio, das als eines der besten norwegischen Jazz-Alben des Jahres 2022 gilt. © Text: Label


Dave Sumner (Bandcamp) zum Release:

Das Thema Liebe und das Verstehen der eigenen Identität bilden die Grundlage von Liv Andrea Hauges neuestem Werk, und die Musik wechselt zwischen Zuständen von aufgewühlter Dissonanz und erhabener Melodik. Es sind die Übergänge zwischen diesen Zuständen, die dem Album seine süchtig machende Qualität verleihen und die den Hörer unter die Oberfläche ziehen und ihn in jedes einzelne Stück eintauchen lassen. Das Septett des Pianisten aus Oslo, Norwegen, akzentuiert jede Qualität gleichermaßen, wobei es nie zulässt, dass eine Qualität einen stärkeren Eindruck hinterlässt als die andere, so dass die Übergänge von einem Zustand in den anderen und wieder zurück so natürlich erscheinen wie der Tod und die Wiedergeburt in den Zyklen der Natur.




Theodore Cale Schafer – Trust / Students of Decay

Als zweites Album einer geplanten Trilogie für Students of Decay folgt Theodore Cale Schafers Trust auf Patience von 2019 und baut auf dessen Motiven und kompositorischen Strategien auf, um ein starkes Dokument des künstlerischen und persönlichen Wachstums zu schaffen. Aufgenommen zwischen 2020 und 2022, einer Zeit, in der Schafer nach New York City umzog, fühlen sich diese Arrangements an, als trügen sie das Zeichen eines Maßstabswechsels, der die private, diaristische Sensibilität seiner früheren Arbeit nicht so sehr aufgibt, sondern sie mit einer aufgeladenen Atmosphäre von lebendiger, langsam aufblühender Intensität versieht. In diesen Liedern vollführt der Künstler eine Gratwanderung zwischen Drama und Strenge, Erzählung und Abstraktion. © Text: Label


Theodore Cale Schafer

Das ist sowohl bei „Luck“ der Fall, wo sich ein fesselnder Schwall barocker Streicher langsam in ein Bett aus dunkler, flimmernder Atmosphäre zurückzieht, als auch bei „Best Friend“, wo Gesprächsfetzen von hinreißenden Klaviermotiven und schwebenden Drones unterbrochen werden. Es ist ein Album, das Aspekte von Schafers bisherigem Schaffen weiterentwickelt – die geduldig dosierten, kaum wahrnehmbaren Klaviermelodien, die unerwartete Resonanz von spontanen Aufnahmen vor Ort – und sie wie Rohmaterial zu robusten, lyrischen Kompositionen verarbeitet. Manchmal driftet Trust fast in den romantischen Bereich des Orchesters ab und ist das großzügigste und weitreichendste Angebot, das wir von Schafer in seiner jungen Karriere gehört haben. © Text: Label




Werner Dafeldecker – Neural / Room40

Werner Dafeldecker: Aus welchem Grund auch immer, ich fand die Idee, fremdes Material als strukturierendes Element eines künstlerischen Prozesses zu verwenden, schon immer spannend. Das heißt nicht, dass die Elemente immer bleiben, sondern ich entferne sie oft erst am Ende des kreativen Prozesses. Diese Arbeitsweise schafft Spannungsfelder, die den künstlerischen Prozess auf einer anderen emotionalen Ebene reflektieren. Sie reduziert das Gefühl der Schöpfung und geht mehr in Richtung Vollendung. Diese Methode gilt für beide Stücke dieses Tonträgers in ähnlicher Weise.

Neural stellt Klangflächen in den Mittelpunkt und ist von der Idee inspiriert, dass neuronale Netzwerke ein Gedächtnis entwickeln, wenn sie wiederholt Informationen senden. Das Ensemble konzentriert sich auf Schwingungen und rhythmische Variationen der Obertöne, die durch Dynamik und Tonhöhenverschiebungen im mikrotonalen Bereich hervorgerufen werden. Mit der Zeit und der Aufführungspraxis etablieren sich sphärische, akustische Stempel, die durch die bewusste Wahrnehmung entstehen, wann Rhythmus in Klangempfinden übergeht und umgekehrt.


Werner Dafeldecker

Für „Tape 231“ entdeckte ich in meinem Archiv eine längst vergessene Musikkassette wieder, die merkwürdige perkussive elektronische Klänge enthielt. Als Lucio und ich an den Aufnahmen seiner langgezogenen Töne und Multi-Phonics arbeiteten, wurde ich erneut von der Idee angezogen, die Tonbandgeräusche in erster Linie als strukturierendes Element für das Stück zu verwenden (Zeit, Dichte, Dynamik), um sie dann wegzulassen. Der gezielte Umgang mit versteckten Strukturen evoziert eine etwas eigensinnige Emotionalität im Umgang mit kreativen Prozessen, das gefällt mir.




Solo Andata – Slip Casting / 12K

Slip Casting, ein Begriff, der sich auf das Gießen von Keramik bezieht, spiegelt bei Solo Andata die Ideen von plastischer Form, der Umformung von Materialien, Stärke und Zerbrechlichkeit wider. Dem Duo Kane Ikin und Paul Fiocco sind diese Ideen nicht fremd, denn die Integration aller Arten von Objekten, ob musikalisch oder nicht, ist seit fast zwei Jahrzehnten Teil ihres Audio-Lexikons. Sampler, Bandmaschinen, Synthesizer und Gitarren sind per definitionem keine ungewöhnlichen Instrumente, aber wenn sie mit Hufeisen, Glasscheiben, Pfählen und Kurzwellenradios kombiniert werden, nimmt die Klangwelt von Slip Casting eine mechanische Dringlichkeit an, die Metall und Rauch dem musikalischen Klang vorzieht. Das Album bewegt sich, atmet und bricht zusammen, wobei der Puls sowohl präsent als auch angedeutet ist. © Text: Label


Solo Andata

Solo Andata: Slip Casting entstand aus einer intensiven zweiwöchigen Aufnahme- und Schreibphase in einem eigens dafür vorgesehenen Raum, in dem wir alles aufnahmen, was einen Klang erzeugte – von wissenschaftlichen High-Fidelity-Hydrofonen bis hin zu Lo-Fi-Diktaphonen, die Radiobänder konservierten und geisterhaften Signalen nachjagten.
Wir untersuchten diese Aufnahmen, manipulierten und zerlegten sie in eine neue Bibliothek, aus der wir schöpfen konnten, und spielten sie durch eine feste analoge Signalkette, die aus zwei Bandmaschinen, einem Ringmodulator und einem digitalen Delay bestand. Alles, was wir aufnahmen – gefundene Klänge, Synthesizer, Gitarre, Klavier, Perkussion – durchlief diese Kette.
Jede Tagessession begann damit, dass wir eine Schleife erstellten, mit ihr wie bei einer Meditation saßen, bei einem Kaffee plauderten und sie kennenlernten, bevor wir einige Stunden lang über sie improvisierten. Wir schichteten und bauten eine riesige Menge an Material auf, bis wir an eine Bruchstelle kamen. Am nächsten Tag fingen wir an, es auseinander zu nehmen, zu schneiden, zu rasieren und nach den Spuren zu suchen, die in den Schichten verborgen waren. Was als hochgradig additiver Prozess begann, endete in einem hochgradig subtraktiven Prozess.


Slip Casting ist Solo Andatas drittes Album für 12k und unterstreicht erneut die unglaublich vielfältige Klangpalette, die das Duo gekonnt zu detaillierten Kompositionen voller Schotter und Lärm ausarbeitet. Das Album, das an die Intensität des selbstbetitelten Albums anknüpft, spuckt und rattert wie eine Maschine, die zu Beginn der industriellen Revolution geboren wurde. © Text: Label




Zuerst wollte ich Liv Andrea Hauge gar nicht mehr hören, legte sie weg, zu schön. Beim nächsten Hören klang es dann wie die Waldszene aus dem Sommernachtstraum, sehr theatralisch, das war meine Assoziation. Mit der Geschichte zusammen ergibt das natürlich alles einen Sinn. Im Grunde geht es um eine Frau, die sich in einen Narzissten verliebt und als Echo endet.
Die sehr luftigen, melodischen Kompositionen von Liv Andrea Hauge changieren sehr fein zwischen dem markanten Gesang von Ragnhild Moan und der quasi Jazzband, die für das Gegengewicht, die Erdung zuständig ist. Hier haben alle Instrumentalisten genügend Raum, sich zu entfalten, und es gibt ganz wunderbare Brüche. Liv Andrea Hauge hat in kurzer Zeit in Norwegen für Furore gesorgt, kennt Genre Grenzen. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.

Bei Theodore Cale Schafer dachte ich immer: Das magst du doch nicht, oder? Irgendwie hat mich seine Musik an Rachika Nayar erinnert. Es gibt so eine Stimmung in ihrer und seiner Musik, die schwer zu beschreiben ist. Eine Mischung aus Fieldrecordings, Sprachfetzen und sehr eigenwilligen elektronischen und gesampelten Sounds. Das Verrückte daran ist, dass die Faszination, die von seiner Musik ausgeht, nicht nachlässt, seine Atmosphären einen fesseln. Eine große Entdeckung.
Der Kontrabassist, Komponist und Elektroniker Werner Dafeldecker hingegen ist ein alter Bekannter und die Vielfalt seiner Aktivitäten kann man hier gut nachlesen. Ich würde sagen, sein Ensemble Polwechsel ist Pflicht. Ehrlich. Und die vielen Kooperationen bergen einige Geheimtipps.
Eigentlich müsste es hier um 2 Veröffentlichungen gehen „Neural“ (7.6.23) und „Der Krater“ (9.6.23). Ich beschränke mich hier aber auf „Neural“. 2 Bässe und 2 Celli sind die Instrumentierung in Neural. Alles entwickelt sich sehr langsam. Ihr könnt es auch als Meditation betrachten, um diesen Verschiebungen, diesen Überlagerungen, die sich im mikrotonalen Bereich abspielen, folgen zu können. „Tape 231“ ist da abwechslungsreicher und die Grundidee, wie er sie beschrieben hat, klingt sehr spannend. Aufmerksames Zuhören wird hier belohnt.
Allein die Arbeitsweise von Kane Ikin und Paul Fiocco aka Solo Andata ist faszinierend. Ich würde gerne dabei sein, wenn das gesammelte Material in Schichten übereinander gelegt wird und dann ein Loop entsteht, der wiederum bearbeitet wird. Die Texte dazu sind sehr aufschlussreich. Das Ergebnis ist sehr abwechslungsreich, voller Überraschungen und von einer enormer Bandbreite. Eine Klangreise par excellence!








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