Das sind wieder große Gegensätze, die Euch erwarten. Die Remasterte Veröffentlichung eines Klassikers, Industrial Music vom The Helen Scarsdale Agency Label, Neues von Steve Fors und mit Cheri Knight blicken / hören wir zurück.
Gnawa Music Of Marrakesh – Night Spirit Masters / Zehra

„Das ist das einzig Wahre, Polyrhythmen in Hülle und Fülle, intensive Musik, die einen in eine andere Welt versetzen kann.“
Tom Schnabel / KCRW Radio
„Dieses Album wird seit langem als eine der Referenzscheiben der Gnawa-Musik bezeichnet.“
Songlines, Die 10 wichtigsten Gnawa-Alben
„Gnawa, bodenschwere Trance-Musik aus Nordafrika. Repetitive Basslinien, erzeugt von der Gimbri oder Sintir mit Metallklöppeln, Handtrommeln und Stimme. Sieben Trancezustände, sieben Farben, sieben Düfte, Gnawa bewegt nicht nur, es kann auch entführen.“
Bill Laswell
Pinkcourtesyphone – Shouting At Nuance / The Helen Scarsdale Agency

Pinkcourtesyphone ist das Pseudonym des in Los Angeles lebenden Minimalisten Richard Chartier. Unter diesem Pseudonym, schwelgt Chartier in einer emotionalen Erstarrung durch seine hauntologischen Kompositionen für vergessene Träume mit einer mit einer opernhaften Erhabenheit und dem subtilen Einsatz eines gewissen nostalgischen Lagers. Shouting At Nuance blickt zurück auf Chartiers früheste Veröffentlichungen, die es nur auf Kassette gab, mit Anklängen an den Verfall als eine unerkennbare Rekonstruktion vergangener Werke, wobei seine geisterhafte Atmosphäre zu einem Duplikat seiner selbst wird, das eine Streuung von Drift und Dröhnen in einer Rückkopplungsschleife zerfallener Erinnerung widerhallt.

„Shouting At Nuance“ wurde ursprünglich als Teil der sofort vergriffenen „On Corrosion-Box“ veröffentlicht – einer 10 Kassetten umfassenden Anthologie aus dem Jahr 2019, die in einer handgefertigten Holzbox untergebracht war und vollständige Alben von Kleistwahr, Neutral, Pinkcourtesyphone, Alice Kemp, She Spread Sorrow, G*Park, Relay For Death, Francisco Meirino, Fossil Aerosol Mining Project und Himukalt enthielt.
Die Sammlung war auch die 50. Veröffentlichung von The Helen Scarsdale Agency, einem 2003 gegründeten Label, das sich der postindustriellen Forschung, rekombinantem Lärm, surrealistischem Abriss und existenzieller Leere verschrieben hat. © Text: The Helen Scarsdale Agency
Steve Fors – it’s nothing, but still / Hallow Ground

Steve Fors bietet auf seinem Hallow Ground-Debüt zutiefst physische Musik. Nachdem er sich bereits in verschiedenen Underground-Projekten in Chicago und New York als Komponist von intensiven Drone- und Noise-Stücken etabliert hat, ist Fors‘ erste Veröffentlichung unter seinem Namen noch dichter und eindringlicher als seine früheren Arbeiten. Auf dem von Siavash Amini produzierten Konzeptalbum zum Thema Atem vermischt der in der Schweiz lebende Komponist Feldaufnahmen mit elektronischen und akustischen Klängen – vor allem mit mächtigen Cello-Drones – und erzielt damit einen fast überwältigenden Effekt.
Ursprünglich inspiriert durch sein Leben mit einer chronischen Lungenerkrankung, fertigt Fors akribisch Stücke an, die über seine persönlichen Erfahrungen hinausgehen und nach etwas Universellem streben. „Das Album ist eine Studie über Melancholie und Vergänglichkeit“, erklärt er. „Und meine Absicht ist, dass die Klänge in jedem von uns eine Erinnerung, ein Bild, ein Gefühl auslösen. Auch wenn unsere spezifischen Umstände vorübergehend und diskret sind, bleiben Freude, Wut und Verzweiflung existentiell für unsere gemeinsame Erfahrung.“© Text: Hallow Ground

Hier ein Auszug aus einem Interview mit Steve Fors auf foxydigitalis, wo er ausführlich über sich, seine Musik und diese Veröffentlichung spricht.
Sie sprechen das in der Beschreibung des Albums ein wenig an, aber inwiefern sind Musik und Sound für Sie ein Transportmedium?
Ich denke immer darüber nach, wie Sound innerhalb von Sekunden eine neue, unvorstellbare Welt erschaffen und den Hörer dorthin bringen kann, und dieser Geist ist in diesem Album tief verwurzelt, also würde ich gerne deine Gedanken dazu hören… Wenn ich Musik mache, bin ich auf der Suche. Ich suche nach diesem Zustand des Seins, umhüllt von der Weite, sowohl in der akustischen Sättigung als auch in der Stille. Ich gebe einem einfachen Klang die Kraft, eine andere Zeit und einen anderen Ort heraufzubeschwören, eine emotionale Körperlichkeit hervorzurufen und sowohl Erinnerungen als auch Vorstellungen zu verkörpern.
Einer meiner Lieblingskomponisten, John Luther Adams, hätte es nicht besser sagen können: Meine Hoffnung ist, dass die Musik eine seltsame, schöne, überwältigende – manchmal sogar beängstigende – Landschaft erschafft und Sie einlädt, sich darin zu verlieren.
Interview auf foxydigitalis 08/22
Cheri Knight – American Rituals / Freedom To Spend
Cheri Knights „American Rituals“ ist ein weiterer Meilenstein von Pete Swansons und Jed Bindemans Label „Freedom To Spend“, der den szeneverändernden Avant-Minimalismus von Steve Reich in einen prickelnden Post-Punk-Keller verwandelt.
American Rituals“ ist der perfekte Titel für Knights eigentümliche Experimente, die sie zu Hause aufgenommen hat. Die in Olympia, Washinton, lebende Künstlerin wurde vor allem durch ihre Arbeit mit der Alt-Bluegrass-Band Blood Oranges bekannt, aber erst mit ihrer Soloarbeit wird es richtig interessant. Das Eröffnungsstück „Prime Numbers“ setzt sich aus sich wiederholenden Phrasen und Zählzeiten, rhythmischem Klatschen und einem gebrochenen Kick-Pattern zusammen und verweist auf Steve Reichs Pulsexperimente und Phasing-Platten (insbesondere „Clapping Music“), ohne jedoch die erhabene Nonchalance der DIY-Szene der 1980er Jahre in Kaskadien zu verlieren. Tips On Filmmaking“ ist sogar noch tiefgründiger, es taucht sanft mit knolligen Drones auf, bevor es sich in Marimba-Mustern und gesungenen Vocals auflöst; es ist zutiefst amerikanische Musik, die aber auf eine ältere Tradition der musikalischen Kommunikation zurückgeht als amerikanische primitive Songs oder knisternde Country-Aufnahmen.

Auf „Water Project #2261″ beschwört Knight eine friedliche Meditation mit Klavier, glasigen Perkussionsinstrumenten, Synthesizerflächen und einem Eno-esken Plastikbass herauf. Das Stück knüpft an die New-Age- und Ambient-Traditionen dieser Ära an, klingt aber gleichzeitig losgelöst von den Wiederholungen dieser Szene und deutet kantigere (und deutlich weniger bearbeitete) Klangwelten an. No One’s Hands“ ist das beeindruckendste Stück des Albums und verbindet Knights Wiegenlied mit kaum hörbarem Flüstern, das einen ASMR-Effekt erzeugt, der seiner Zeit voraus ist und nicht weit von Robert Ashleys „Automatic Writing“ entfernt ist.
American Rituals“ fühlt sich hausgemacht an, aber nie aufgesetzt – und bietet einen wertvollen Blick in eine fruchtbare Epoche, in der Punk, Folk und intellektueller Experimentalismus gleichzeitig und in perfekt gebrochener Harmonie existierten. © Text: Boomkat
Hier ist wieder vieles versammelt, was am 19.8.2022 auf dem großen Markt der neuen Veröffentlichungen erschienen ist. Mit Ausnahme von Cheri Knight. Wie ich schon geschrieben hatte, gab es eine Verzögerung, da ich für die Musik von Gammelsæter & Marhaug einen eigenen Beitrag schrieb. Das Ganze ist halt sehr fluide.
Was schreibt man über einen Klassiker, der jetzt Remastert auf Vinyl erscheint? Es geht dabei doch nur um die Kohle, die sich damit machen lässt. Für alle jungen Hipster, die mit Vinyl herumfuchteln, während die Alten abwinken. Auf Bill Laswells Bandcamp Seite wurde das ganze schon 2016 digital verbreitet. Mehr muss ich dazu nicht schreiben.
Letzlich ist Richard Chartiers „Shouting At Nuance“ auch ein Re-Release, wie die Musik der Gnawa. Die fantastische Box, auf der seine Musik zuerst erschien, ist vergriffen, was zu erwarten war. Und so können wir jetzt hören, was es dort zu hören gab. Die 4 Stücke entwickeln sich sehr langsam und lassen sich viel Zeit. Ich würde sie auch als eine Art Meditation bezeichnen. Es ist sehr faszinierend, sich hier fallen zu lassen.
Die Musik von Steve Fors war eine schöne Entdeckung. Sie hat mich sehr beeindruckt, auch was er im Interview erzählte. Das war alles sehr aufschlussreich und lässt eine Tiefe in seiner Musik erkennen, die sich beim ersten Hören nicht unmittelbar erschließt. Dafür wird man aber beim 2. Hören sehr belohnt.
Cheri Knight sollte schon im Juli dabei sein. Ich habe es aber, wie so vieles, nicht geschafft und das ist einer der Gründe, warum ich diese Release-Date-Zusammenstellungen mache. Damit ich wenigstens ansatzweise der Flut an neuen Veröffentlichungen Herr werde.
Cheri Knights Mix für The Wire, den ich hier schon vorgestellt habe, brachte sie wieder in mein Bewusstsein zurück. Ihre „American Rituals“ sind ein willkommener Rückblick auf die Anfänge der 80er Jahre in New York. Wo die Lust am Experimentieren und eine gewisse Unbekümmertheit, noch deutlich ausgeprägter war, als er heute der Fall ist. Man hört ihre Vorbilder und dennoch bleibt sie nicht hinter ihnen zurück und schafft ihre eigene und ganz spezielle Musik.