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Release Tipp: Resonance Gathering von Pauline Oliveros, IONE, Christopher Willes … / Art Metropole

Ein bewegendes Stück Musik, das wir hören können. Es muss Pauline Oliveros ein Lachen auf ihr Gesicht zaubern, wenn sie den Ort dieses Konzertes erfahren würde: die leere Ratskammer des Rathauses von Toronto! Was für eine tolle Idee.


Resonance Gathering ist eine Doppel-LP und ein Buch, das ein groß angelegtes Performance-Projekt zur Musik der Komponistin Pauline Oliveros (1932-2016) dokumentiert, das zwischen 2017 und 2019 in Kanada stattfand. Das Projekt versammelte neunzehn interdisziplinäre Performer, um Oliveros‘ Partitur To Valerie Solanas and Marilyn Monroe in Recognition of Their Desperation (1970) zu interpretieren – ein Werk für Klang und Licht, das als Reaktion auf die Angst und die politischen Unruhen von 1968 in Amerika geschrieben wurde. Das von dem multidisziplinären Künstler Christopher Willes und dem Kollektiv Public Recordings organisierte Ensemble umfasste Künstler aus den Bereichen Tanz, Theater, Musik und bildende Kunst, die in einer Reihe offener Proben in verschiedenen Gemeinschaftsräumen in Toronto gemeinsam als Musiker auftraten. © Text: Label


Hier ein Video über die Aufführungen des Stücks. Leider mit Werbung. Ich habe kein anderes gefunden.


Das Projekt endete mit einer letzten Aufführung von Oliveros‘ Stück in den Ratskammern des Rathauses von Toronto. Die politische Situation vor Ort war zu diesem Zeitpunkt unerwartet angespannt: Mitten in den Wahlen hatte die konservative Provinzregierung die Grenzen der Bezirke neu gezogen und die Zahl der Ratsmitglieder fast halbiert. In diesem Kontext erhielt Oliveros‘ Partitur, die ein selbstverwaltetes System für das gemeinsame Musizieren vorschlägt, eine neue Resonanz. Und so fand die Aufführung zwischen den leeren Schreibtischen der Ratsmitglieder statt, inmitten der Gespenster der Repräsentationspolitik, in einem Raum, in dem Debatten und Entscheidungen über das Miteinander greifbare Konsequenzen haben.



Resonance Gathering erweitert dieses Projekt um eine Publikation. Die LP beginnt mit einem neuen Klanggedicht von IONE (Künstlerin und Oliveros‘ Ehefrau), das 2021 in ihrem Haus in Kingston, New York, aufgenommen wurde. Die einundfünfzig Zeilen Text und Stille sind teils geführte Meditation, teils Traum und evozieren den Lauf der Zeit zwischen 1970 und 2021. Auf Seite B/C/D ist eine 45-minütige Aufnahme der Aufführung in der City Hall zu hören, die in einem Mehrkanalformat aufgenommen wurde, das den Zuhörer auf subtile Weise in geisterhafte Räume des Ensembles versetzt. Die Veröffentlichung umfasst auch ein 64-seitiges Buch mit Texten, einem bisher unveröffentlichten Text von Oliveros, Fotografien von Claire Harvie und einer Flexi Disc mit einer Hörpartitur, die zu neuen Hörversuchen einlädt.


IONE und Pauline Oliveros

To Valerie… markierte eine wichtige Wende in Oliveros‘ Arbeit, weg von der traditionellen Komposition und hin zu klanglich-somatischen Praktiken, die erforschen, wie das Zuhören die Wahrnehmung von sich selbst und anderen verändern kann. Deep Listening“, wie sie es später nennen sollte, kann „resonante Verbindungen hervorbringen, die jenseits der Oberfläche unseres Bewusstseins liegen und uns helfen, uns zu verändern […] und zu wachsen“. Fünfzig Jahre nach der Uraufführung des Stücks erforscht diese Veröffentlichung, wie Oliveros‘ Ideen und ihre Musik in unserer Zeit weiterwirken.


„Wir wollten dieses Stück den Menschen jetzt nahe bringen, weil die Zeit, in der es entstand – 1970 – eine Zeit des konservativen Gegenwinds zu vielen Dingen war. In vielerlei Hinsicht leben wir in einer Zeit, die sich politisch und gesellschaftlich ähnlich anfühlt, und wir machen dieses Stück, weil es darum geht, dass Menschen in Echtzeit neue Wege des Zusammenseins und neue Wege der Selbstorganisation finden.“

— Christopher Willes

„Kurz nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1968 fiel mir das SCUM-Manifest von Valerie Solanas in die Hände. Ich war fasziniert von den egalitären feministischen Grundsätzen, die im Manifest dargelegt wurden, und wollte sie in die Struktur eines neuen Stücks einfließen lassen, das ich gerade komponierte. Die Frauenbewegung war im Kommen, und ich hatte das Bedürfnis, meine Resonanz mit dieser Energie auszudrücken. Marilyn Monroe hatte sich das Leben genommen. Valerie Solanas hatte versucht, sich das Leben von Andy Warhol zu nehmen. Beide Frauen schienen verzweifelt und in den Fallen der Ungleichheit gefangen zu sein: Monroe wollte für ihr Talent als Schauspielerin anerkannt werden. Solanas wünschte sich Unterstützung für ihre eigene kreative Arbeit. Im Auftrag der Musikabteilung des Hope College, Holland Michigan, wurde To Valerie Solanas and Marilyn Monroe in Recognition of Their Desperation 1970 uraufgeführt. Obwohl jeder Marilyn Monroe kannte, erkannte kaum jemand Valerie Solanas oder nahm ihr Manifest ernst. Ich habe die Namen dieser beiden Frauen im Titel des Stücks zusammengebracht, um auf ihre Ungleichheit aufmerksam zu machen und das Stück zu widmen.“

— Pauline Oliveros


Im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung habe ich nach Material über Pauline Oliveros gesucht und bin bei Kristoffer Cornils (hhvmag) gelandet. Er hat ihr Leben und Werk sehr gut zusammengefasst. Wer mehr über diese außergewöhnliche Frau erfahren möchte, dem sei dieser Text wärmstens empfohlen.


„Pauline Oliveros‘ musikalisches Schaffen ist deshalb nicht von sozialen und auch politischen Fragen zu entkoppeln. Bis an ihr Lebensende war sie innerhalb und außerhalb von Hochschulen als Lehrerin, als künstlerische Kollaborateurin und Komponistin, vor allem aber als Ermöglicherin aktiv: Sie brachte Menschen zusammen und ihnen bei, nicht nur auf die Welt um sie herum, sondern auch einander zuzuhören. Sie strebte nicht nur eine Demokratisierung des Gehörten, sondern auch der (Zu-)Hörenden an. Das schließlich war der Kern ihrer leisen, subtilen Revolution: Sie verschob sachte den Fokus von einem männlich kodierten Geniekult und den eingerosteten Strukturen hochkultureller und akademischer Musik hin zu aktiven Hör- und Musikpraktiken, öffnete die Tore avantgardistischer Ideen für ein breiteres Publikum – und nicht manchen Menschen darunter unwiderruflich die Ohren für all das, was ihnen bisher entgangen war.“

— Kristoffer Cornils

Das Kollektiv Public Recordings, das sich aus Künstlern aus den Bereichen Tanz, Theater, Musik und Bildende Kunst zusammensetzt, hat dieses Stück von Pauline Oliveros unter der Leitung des Künstlers Christopher Willes in zahlreichen, zum Teil öffentlichen Proben erarbeitet. Diese Partitur schlägt für die Aufführung ein selbstverwaltetes System des gemeinsamen Musizierens vor. Wie im Video zu sehen ist, gab es viel zu organisieren. Absprachen wie Lichtzeichen, Handzeichen für einzelne oder mehrere Aktionen und vieles mehr. Wie oben in den Texten erwähnt, ist dies eines der ersten, wenn nicht das erste Stück, das mit dem von Pauline Oliveros kreierten Begriff des „Deep Listening“ in Verbindung gebracht wird. Gemeint ist damit das genaue Hinhören, die Kontemplation jedes noch so leisen und nebensächlich erscheinenden Tons. Und so entwickelt sich das Stück in Wellen. Momente der Unruhe wechseln mit Phasen vermeintlicher Ruhe. Ich habe mich dieser langen Musik in mehreren Phasen genähert. Ganz und in Teilen. Das kann jeder für sich selbst entscheiden. Resonance Gathering ist ein erstaunliches neues Paket des bewährten Torontoer Verlags ArtMetropole, das zwei LPs, ein aufwändiges 64-seitiges Digitaldruckbuch mit neuen und unveröffentlichten Texten, eine Flexidisc und mehr enthält. Auf jeden Fall ist es eine lohnende Herausforderung und eine sehr gute Gelegenheit, sich mit Pauline Oliveros auseinanderzusetzen.

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