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Release Tipps: „Zwischen groovenden Sessions und einem Meer aus Stimmen“

Musik von Johanna Elina Sulkunen, Splashgirl & Robert Aiki Aubrey Lowe, SIHR ( Frédéric D. Oberland, Grégory Dargent, Tony Elieh, & Wassim Halal). Dazu noch Musik von Tijana Stanković. Das musikalische Terrain ist wiedermal sehr breit und ist gut geeignet, um Neues zu entdecken.


Johanna Elina Sulkunen – Coexistence / TILA


Johanna Elina Sulkunen schafft auf dem letzten Album der Trilogie einen Raum für ausgegrenzte Stimmen. Mit dem Album Coexistense schließt die abenteuerlustige finnische Musikerin ihre bemerkenswerte Sonority-Trilogie ab. Es war auch der erste Schritt einer ehrgeizigen Albumtrilogie, die nun mit Coexistence, das am 24. Mai veröffentlicht wird, abgeschlossen wird.

Was würdest du sagen, wenn die ganze Welt zuhören würde? Während Koan und das darauf folgende Terra (2021) als meditative Erkundungen von Sulkunens eigener Stimme und seinem Körper in Verbindung mit Ambient-Soundscapes und Feldaufnahmen entstanden sind, lädt uns Coexistence ein, den Stimmen anderer Menschen auf der Suche nach Verbindung und Gemeinschaft zuzuhören.

„Können wir durch Zuhören lernen, anders zu denken?“ war eine grundlegende Frage, die sich Sulkunen zu Beginn des Albums stellte. Sie reflektierte über die Machtverhältnisse und sozialen Hierarchien, die auch in der menschlichen Stimme eingebettet sind. Obwohl die Stimme scheinbar ein gemeinsamer menschlicher Zustand ist, der uns verbinden kann, nehmen einige Stimmen in der Gesellschaft viel Raum ein, während andere marginalisiert oder sogar zum Schweigen gebracht werden. Für Sulkunen, die mehrere Jahre lang mit seiner eigenen Stimme gearbeitet hat, entstand ein natürliches Bedürfnis zuzuhören – sowohl als musikalische als auch als menschliche Praxis.


Johanna Elina Sulkunen

Die 11 Kompositionen von Coexistence sind aus Gesprächen und Interviews mit Menschen entstanden, die auf die eine oder andere Weise als sozial ausgegrenzt gelten können. Sulkunen hat unter anderem mit Flüchtlingen und Obdachlosen gesprochen, und anstatt sich ihnen als klassische objektive Journalistin zu nähern, hat sie durch die offene Frage einen Raum für Gespräche geschaffen: „Was würden Sie sagen, wenn die ganze Welt zuhören würde?“
Aus den Gesprächen ist ein Netz von Themen entstanden, über Heimat und Obdachlosigkeit, Grenzen und Grenzenlosigkeit, aber auch über Glück, Träume und Visionen für die Welt, in der wir leben.Ein Mosaik von Stimmen. Die vielen Begegnungen und Gespräche haben nicht nur dazu beigetragen, die Themen des Albums zu definieren, sondern Fragmente der Gespräche werden auch als konkretes musikalisches Material verwendet. Mit ihrem bekannten Gespür für komplexe Klanglandschaften und ihrem experimentellen musikalischen Ansatz entfaltet Sulkunen auf Coexistence ein ergreifendes Mosaik menschlicher Stimmen und Geschichten, und mit einer fast anthropologischen Neugier deckt sie Machtverhältnisse und fragile menschliche Beziehungen auf.
Machtverhältnisse und fragile menschliche Beziehungen. Coexistence bietet keine einfache Moral, aber durch sein Beharren auf der Notwendigkeit, den Stimmen zuzuhören, die sonst oft zum Schweigen gebracht werden, ist das Album dennoch von dem Wunsch durchdrungen, einen gemeinsamen menschlichen Raum zu schaffen, einen Treffpunkt mit Raum, um sowohl die eigene Stimme auszudrücken als auch anderen zuzuhören. © Text: Label.



„Was würden Sie sagen, wenn die ganze Welt zuhören würde?“ Aktueller geht’s nicht? Die Stimmen, die oft zum Schweigen gebracht oder gar nicht erst gehört werden, haben hier einen Raum. Ich hoffe nur, dass diese Songtexte im Booklet zu finden sind. Johanna Elina Sulkunens Coexistense ist ein sehr komplexes Werk und durch die vielen Stimmen, die sie einfließen lässt, wird es zu einem Meer an Stimmen. Ein absolut erstaunliches, vielschichtiges Werk und keine Frage, dass ich mir auch die ersten beiden Teile anhören werde.


Splashgirl & Robert Aiki Aubrey Lowe – More Human / Hubro

More Human, das siebte Album von Splashgirl, entstand in Zusammenarbeit mit dem Sänger und Klangkünstler Robert Aiki Aubrey Lowe und dem Produzenten Randall Dunn. Der Titel des Albums, More Human, untersucht die Rolle der Menschheit in einer Gesellschaft, die zunehmend auf Technologie angewiesen ist und in der Künstler in direkter Konkurrenz zu künstlicher Intelligenz stehen. Worin besteht der Unterschied zwischen dem, was Menschen schaffen, und dem, was Maschinen schaffen, während die Technologie immer ausgefeilter wird? Und wie können wir das wahrhaft Menschliche in der Musik bewahren, die von Live-Musikern produziert wird, die zusammenkommen, um Musik zu machen?

Als alles für die Aufnahmen bei Ocean Sound Recordings im Herbst 2021 vorbereitet war, wurde den Amerikanern Lowe und Dunn aufgrund der geltenden COVID-Beschränkungen die Einreise nach Norwegen verweigert. Die Pläne wurden schnell geändert, und Splashgirl plante, bei Ocean Sound Recordings auf Giske aufzunehmen, während Lowe und Dunn bei Circular Ruin in New York aufnahmen. Ein wichtiger Aspekt, der dazu beitrug, dass dies mehr als nur ein Austausch von Dateien über den Atlantik hinweg war, war die Tatsache, dass die Aufnahmen innerhalb desselben begrenzten Zeitrahmens stattfanden – beide Teams gingen am Montag, dem 29. November 2021, ins Studio und arbeiteten bis zum 5. Dezember. Der Prozess lief in groben Zügen wie folgt ab: Team A nahm ein Musikstück auf, das dann nach Westen geschickt wurde, um von Team B bearbeitet und überspielt zu werden.


Robert Aiki Aubrey Lowe und sein modularer Synthesizer

Einige Stücke wurden auf der Grundlage von Anweisungen zu Tempo, Stimmung, Modus oder Tonart von Produzent Dunn improvisiert, während andere im Voraus von Myhre und Lowe komponiert wurden.
Die Zusammenarbeit mit Lowe hat der Musik einen Hauch von Mystik verliehen, was vor allem an seinem Gesang liegt. Die Idee für das Projekt kam ursprünglich von Randall Dunn – er arbeitet seit Jahren mit Splashgirl und Lowe getrennt zusammen und sah die Möglichkeit eines fruchtbaren Austauschs musikalischer Ideen und die Chance, ein einzigartiges Album zu schaffen, in dem beide Stimmen eine wichtige Rolle spielen. © Text: Label.



Dass man sich Musikdateien über Kontinente hinweg schickt und daraus Musik entsteht, ist nicht wirklich neu. Dass aber gleichzeitig in verschiedenen Studios diese Musikdateien produziert und in Echtzeit ausgetauscht werden, ist schon etwas Besonderes. Das Ergebnis lässt sich jedoch nicht verorten, es spielt einfach keine Rolle. Der eigenwillige Gesang von Robert Aiki Aubrey Lowe prägt die Musik über weite Strecken ebenso wie sein modularer Synthesizer, der wesentlich zum neuen Sound von Splashgirl beiträgt. Die so entstandene elektronische Musik erhält durch das Klavierspiel von Andreas Stensland Løwe weitere spannende Akzente. Alles in allem hat sich der Sound von Splashgirl sehr zum Positiven verändert. Spannende und abwechslungsreiche Musik erwartet euch.


Frédéric D. Oberland / Grégory Dargent / Tony Elieh / Wassim Halal – SIHR / Sub Rosa

Nach einigen als Duo improvisierten Konzerten/Screenings in Kairo und Beirut sowie für die Rencontres d’Arles, das Fotografiezentrum in Lille und die belgische Zeitschrift Halogénure haben sich Dargent und Oberland mit den Außenseitern Elieh und Halal für ein rätselhaftes grenzüberschreitendes Manifest zusammengetan. Die ersten klanglichen Gehversuche dieses eklektischen Quartetts, die in einem Bunkerstudio irgendwo zwischen Paris und Berlin stattfanden, hatten die Form einer Suche, einer Neo-Folklore für unruhige Zeiten, einer Musik, die von vielen Spielarten durchdrungen ist und in alle Richtungen experimentiert. Ein fruchtbares Niemandsland, in dem Trance und Kontemplation, Jazz und Electronica, Akustik und Elektrizität zu einem stimulierenden mystischen Magma verschmelzen würden. Von der möglichen Entstehung einer babylonischen Sprache bis hin zum gemeinsamen Wunsch, die Musik als zeremoniellen Akt wiederzuentdecken, fand diese Begegnung in drei Tagen improvisierter Klangbacchanalien statt, deren Phasen alle von Benoit Bel (Zombie Zombie, Thurston Moore Group, Oiseaux-Tempête) aufgenommen wurden.

SIHR ist ein halluziniertes und großzügiges Zeugnis, eine Synergie vieler verschiedener Welten und Möglichkeiten, die klangliche Vision einer Gegenwart, die in einer hybriden Zeit konjugiert und von zu vielen Tangos, die auf der glühenden Asche unserer Tage getanzt werden, überhöht wird. Der Multiinstrumentalist und Fotograf Frédéric D. Oberland leitet seit über zehn Jahren das Kollektiv Oiseaux-Tempête, das sich irgendwo zwischen Avant-Rock und Free Jazz, repetitiver Musik und Elektronik bewegt. Er ist Gründungsmitglied der Bands FOUDRE! und Le Réveil des Tropiques, tritt aber auch solo auf und komponiert Soundtracks für Kino und Installationskunst. Seit 2018 ist Oberland das Label NAHAL Recordings zusammen mit dem Produzenten Mondkop

Grégory Dargent, E-Gitarrist, Oud-Spieler, Komponist und Fotograf, kultiviert seine musikalische Schizophrenie und Identität durch improvisierte Musik, Trance-Musik, Jazz, gekaperten Maqam, repetitive Musik, Pop, elektroakustische Installationen und französisches Chanson. Von L’Hijâz’Car bis Babx, von der Berbersängerin Houria Aïchi bis Rachid Taha, vom Trio H bis zu Sirventés enragés, von der Musik für Bilder bis zur zeitgenössischen Choreografie, von der akustischsten Oud bis zur nuklearsten Gitarre dirigiert, begleitet, komponiert, entschlüsselt, hinterfragt, erforscht, macht Fehler, prallt zurück, arrangiert, orchestriert und teilt unermüdlich seine kreativen Leidenschaften.

Tony Elieh ist einer der Pioniere der experimentellen Musik im Libanon. Er war Gründungsmitglied der ersten Post-Rock-Gruppe des Nachkriegslibanon, The Scrambled Eggs, und hat seitdem seine einzigartigen E-Bass-Fähigkeiten in verschiedenen Gruppen und Musikstilen weiterentwickelt, u. a. in Zusammenarbeit mit Gruppen wie Karkhana, Calamita und Wormholes Electric. In den letzten Jahren ist er nach Berlin umgezogen und hat ein Solo-Set mit stark verarbeiteten Bass-Sounds aufgeführt. Ist Wassim Halal nur ein Darbuka-Spieler? Vielleicht!? Aber was ist mit seiner Musik, seinen Kompositionen, seinen Ideen? Man findet ihn bei Polyphème, wo er mit dem Gamelan Puspawarna populär-zeitgenössische Musik spielt und mitkomponiert, oder an der Seite des französischen Dudelsackspielers Erwan Keravec mit dem Bey.Ler. Bey Trio (mit Laurent Clouet & Florian Demonsant), das an einer improvisierten Balkanmusik arbeitet, mit den Performern und Zeichnern Benjamin Efrati und Diego Verastegui, mit Gregory Dargent und Anil Eraslan in H, wo er ein neues Pedal mit dem Titel „Random Taksim“ kreiert, sein eigenes „Poème Symphonique pour 100 youyou“ oder Stücke für Ensembles komponiert. © Text: Label.



Der Einstieg in die Musik von SIHR gelingt mit dem ersten Titel fabelhaft. Hier gibt es einen Groove, der einen eine ganze Nacht lang mitreißen kann. Später gibt es noch einen obskuren Tango zu hören. Mir gefällt übrigens der Titel. „Neue Folklore für einen verwüsteten Planeten“ dieser passt sehr gut zur Musik von SIHR. Das reizvolle Ausbalancieren der verschiedenen mediterranen Kulturkreise ist das eine, leider verliert sich die Session im Ausloten der verschiedenen Konstellationen, wirkt zerfahren und beliebig. Trotzdem, und da bin ich mir sicher, wird die Musik von SIHR gerade unter den Fans der einzelnen Musiker, ihre Freunde finden.


Tijana Stanković – Folk Songs / FRIM Records

Obwohl sie sich der freien Improvisation verschrieben hat, bringt Stankovićs Hintergrund in Folk und Ethnomusikologie sie in Kontakt mit einer alten emotionalen Syntax. Von Kindheit an in klassischer Geige ausgebildet, begann sie im Alter von 15 Jahren ihre Reise in die Volksmusik, die sie schließlich zu einem Studium der Ethnomusikologie an der Kunstakademie in Novi Sad führte. Im Laufe der Jahre hat sie Elemente der Volksmusik nahtlos in ihre improvisatorische Arbeit integriert und mit bedeutenden Künstlern der improvisierten Musik wie Mezei Szilárd, Márkos Albert, Joel Grip, Nenad Marković, Sőrés Zsolt und Ivan Čkonjević gespielt. Sie hat ihre Talente für verschiedene Projekte wie Argo (HU), Rođenice (SRB) und Hyperion Ensemble (INT) zur Verfügung gestellt. Zuletzt wurde sie von The Wire und The Quietus für ihre Zusammenarbeit mit Vladimir Lenhart gelobt, auf dessen Album Dens (Glitterbeat, 2023) sie ausführlich zu hören ist. Im Gegensatz zu ihrem Solodebüt Freezers (LOM, 2020), das sich an die zeitgenössische Improvisation anlehnte, taucht dieses Soloprojekt tiefer in die traditionellen Folk-Motive des Balkans ein und behält dabei die Essenz der freien Improvisation bei. Stankovićs Ansatz, diese scheinbar disparaten Musiktraditionen zu vermischen, ist sowohl respektvoll als auch innovativ.

Sie erklärt: „Mit meiner Vermischung dieser beiden Traditionen möchte ich nicht behaupten, dass sie durch die Überschreitung ihrer jeweiligen Grenzen ‚verbessert‘ werden. Es ist meine Art, Musik im Rahmen meiner eigenen Möglichkeiten und als eine Art Respekt gegenüber dem Spielen und Singen zu machen.“ Folk Songs präsentiert ein vielfältiges Spektrum an musikalischen Ausdrucksformen. Von der erdigen und düsteren Schönheit des „Liedes für die Bienen (za pčele)“, das von einem rituellen Lied inspiriert ist, das während des Bienensammelns gesungen wird, bis hin zum energiegeladenen und rituellen „Lied für die Königin (kraljička)“ ist dieses Album ein Zeugnis für Stankovićs Meisterschaft, Tradition und Innovation zu vereinen. Aufgenommen mit einem Live-Publikum im legendären Fylkingen in Stockholm, fängt dieses Album die Präsenz und Intensität einer improvisierten Live-Performance ein.
Die in ihrer Einfachheit brillante Aufnahme von John Chantler und das Mastering von Guiseppe Ielasi verstärken den rohen und unverfälschten Charakter von Stankovićs künstlerischer Vision. Darüber hinaus bietet Stankovićs Einbindung von Folk-Elementen aus dem Balkan in den Bereich der frei improvisierten Musik eine neue Perspektive. Ihre Erforschung des heterophonen „izvika“-Stils, der an bestimmte Formen traditioneller serbischer Musik erinnert, fügt der improvisierten Landschaft eine einzigartige Dimension hinzu. © Text: Label.


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