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Soldatensender im Nachkriegsdeutschland – Der Soundtrack, der die Deutschen befeuert

Von Klaus Walter. Sie schließen nicht nur die Pop-Bildungslücken: Der Beitrag britischer und US-amerikanischer Soldatensender zu gesellschaftlichen Veränderungen kann kaum überschätzt werden.

Der berühmteste Besatzer/Befreier tritt am 1. Oktober 1958 seinen Militärdienst an, in den Ray Baracks im hessischen Friedberg, wie ein gewöhnlicher Soldat. Ungewöhnlich: Er muss nicht in der Kaserne nächtigen, er darf in einer Villa wohnen, im benachbarten Bad Nauheim. Bis heute streiten sich die beiden Wetterau-Gemeinden um das Prädikat: Deutsche Elvis-Hauptstadt. Angekommen ist der King Of Rock’n’Roll in Bremerhaven.

Zur selben Zeit steckt Klaus Theweleit in der Pubertät: „Ich war gerade umgezogen von einer männlichen Schule (Husum) in eine andere mit Mädchen (Glückstadt), als es 1956 wurde und die Luft schwanger war mit Rock‘n‘Roll. Die Befreiung von den Nazis kam jetzt, sie kam wirklich durch die Alliierten, die Ami-Panzer fuhren im Kreis auf dem Plattenteller, alle sexuellen Phantasien wurden fremdsprachig, füllten sich mit Rock-Fetzen und Disc Jockey-Stimmen (auch weil das eine Sprache war, von der meine Eltern kein Wort verstanden, kein einziges Wort. Ein Geschichtsanfang).“ Jahrzehnte später gilt immer noch mit Tocotronic: Über Sex kann man nur auf Englisch singen.



1977 verändert Theweleits Buch über den gewalttätigen soldatischen Körperpanzer und seine Angst vor den roten Fluten der Frau unser Verständnis von Nazi-Physis und -Psyche: „Männerphantasien“. Später würdigt der Autor die befreienden, panzerschmelzenden, entkrampfenden, heilenden Kräfte dieser neuen Musik aus Amerika (und England), für Deutsche einfach N…musik. Die rotiert manchmal auf Plattenspielern, dröhnt aber öfter und öffentlicher aus Koffer-, Auto- und anderen Radios, die nicht mehr Volksempfänger heißen. „Vor dem Plattenradio“, schreibt Theweleit, „das waren in Schleswig-Holstein die Sender AFN (American Forces Network) in Bremerhaven und BFN (British Forces Network) in Hamburg, erfuhr man, dass Pop-Songs von Werten handelten, nicht so sehr des Subjekts, sondern vom Aufbau des Körpers und des Selbstgefühls. Dies war der scheinbare Widerspruch. Auf Konzerten antwortete man dem Sänger im Chor, nämlich als ein Haufen identischer Individualisten. Einerseits: Ich bin wie ich nur ich, andererseits bin ich, was ich höre und wie ich mich kleide. Diesen Widerspruch gibt es so nur im Pop, wenn man aber etwas weiterdenkt, dann gibt es diesen Widerspruch natürlich überall.“ Wenn zum Beispiel Ray Davies mit den Kinks „I’m not like everybody else“ singt und 20 000 Leute dem Sänger im Chor antworten, dass sie ebenfalls nicht sind wie jede(r) andere, dann performt da ein Haufen identischer Individualisten.

© Frankfurter Rundschau, Kultur, 23.6.2024

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