Das Atonal würdigt Iannis Xenakis : Musizieren nach Zahlen

Das Festival Atonal Berlin widmet Iannis Xenakis zu seinem 100. Geburtstag ein Programm. Die Partituren des Komponisten verbinden Klang und Mathematik. Von Thomas Wochnik.

Moby Dick, der Wal, taucht in Herman Melvilles Erzählung nie in Gänze auf. Im Blick des Waljägers Ahab zeigt er sich nur als amorphes Weiß, mal fragmentiert, mal als Horizont, das Schiff umzingelnd, überall zugleich. Wie eine Art Nebel aus weißem Rauschen. Moby Dick ist nie bloßes Tier, mit Kopf, Abdomen und Flossen, sondern die beinahe körperlos gewordene Verkörperung aller ahabschen Ungewissheit. Wollte man Moby Dick mathematisch fassen, müsste man mindestens die Wahrscheinlichkeitsrechnung bemühen.

Im Kampf gegen Faschisten lebensgefährlich verletzt

So gesehen steckt eine ganze Menge Moby Dick in der Musik des Komponisten Iannis Xenakis, den die aktuelle Ausgabe des Festivals Berlin Atonal mit dem Programm „X100“ ehrt – anlässlich des 100. Geburtstags des Komponisten. 1922 in der rumänischen Kleinstadt Braila zur Welt gekommen, wächst Xenakis in Griechenland auf, wo er mit 18 Jahren die faschistische Besatzung erlebt. Als Student der Ingenieurswissenschaften steht er bald bei Demonstrationen gegen die Besatzer an vorderster Front.

Das rhythmische Rufen antifaschistischer Parolen tausender Stimmen und sein plötzliches Umschlagen in chaotisches Geschrei, als die Nazis beginnen, in die Menschenmenge zu feuern, brennen sich für immer in sein Gedächtnis ein. Später wird er den Höreindruck als „Klangwolke“ beschreiben und mit der leisen nächtlichen Geräuschkulisse beim Zelten in der Natur vergleichen, wenn Abertausende ganz unterschiedlich tönender Insekten ein homogenes Hintergrundrauschen erzeugen. Wie Moby Dick, ein körperloses Ganzes, dessen einzelne Bestandteile hörend gar nicht nachvollziehbar sind.

Highlights des Atonal Festivals

Im Kraftwerk in der Köpenicker Straße 70 werden vom 18. bis 20. November Werke von Iannis Xenakis neben zeitgenössischen Kompositionen aufgeführt. Darunter das zwischen elektronischer und instrumentaler Musik oszillierende Stück „Living Torch“ (Freitag) von Kali Malone, das, wie viele Werke Xenakis, in den Pariser GRM-Studios realisiert wurde, und „Pléïades“ (Sonntag) von 1979, mit dem von Xenakis entwickelten Instrument Sixxen. Der Chor der 1940 in Athen Demonstrierenden findet in „Nuits“ (Sonntag) von 1968 Nachklang. In „Ride of Discomfort“ von Puce Mary & Bill Kouligas klingen xenakis’sche Mathematik und Spieltheorie an. Info: berlin-atonal.com.



Der Tagesspiegel, Kultur, 17.11.2022

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