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FAZ: Joni Mitchell Archives Vol. 1 – Sie ließ sich nicht reinreden

Nichts gegen den Heiligen Bob Dylan, aber es gibt da noch die große Joni Mitchell: In den „Joni Mitchell Archives Vol. 1“ werden die prägenden Jahre der kanadischen Sängerin unmittelbar und hinreißend dokumentiert. Von Ulrich Rüdenauer

Irgendwann Mitte der Sechziger verwandelte sich Roberta Joan Anderson, die aus der kanadischen Provinz stammte, Woody-Guthrie-Songs zur Ukulele und Volksweisen mit lustigem irischem Akzent sang, in Joni Mitchell. Wie es in kürzester Zeit zu dieser Metamorphose kam und aus einer Folksängerin von der Stange die selbstsichere Interpretin eigener Songs wurde, ist eine jener unglaublichen Geschichten aus dem Popsagenbuch. Denn gewartet hatte niemand auf das Mädchen aus Saskatoon, Saskatchewan. Schon allein der Name ihrer Heimatstadt klang nicht recht nach Showbiz, eher „wie eine Krankheit“ – eine scherzhafte Bemerkung, die ihr bei frühen Konzerten ein paar Lacher einbrachte.

Es war die berüchtigte Ochsentour, wie sie die Coen-Brüder in ihrem Film „Inside Llewyn Davis“ nostalgisch und stilecht nachgezeichnet haben: Anderson tingelte wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen durch die einschlägigen Clubs und Cafés, trat für ein paar Dollar auf, schien aber von diesem holprigen Weg nicht abbiegen zu wollen. Sie ließ sich nicht reinreden. Das hatte sie von klein auf gelernt, obwohl ihr der liebe Gott zwischendurch immer mal wieder ein paar Knüppel zwischen die Beine warf – sie hatte eine Polioerkrankung überlebt, mit einundzwanzig ein Kind bekommen und zur Adoption freigegeben und eine kurze Ehe mit einem Musiker hinter sich gebracht, aus der ihr kaum mehr als der Name Mitchell geblieben war. In Malka Maroms kürzlich bei Kampa erschienenem Gesprächsband sagt Mitchell auf die Frage, warum sie trotz allem weitergemacht habe, darüber habe sie nie nachgedacht: „Vermutlich, weil ich gemerkt habe, wie ich mich entwickle: Ich sah, dass die Musik besser wurde, die Texte besser wurden.“

© FAZ, Feuilleton, 10.11.2020

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