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„Für Carla Bley“ Ein Nachruf von Stefan Hentz

„Ich bin eine Auftragskillerin“, beschrieb sie ihren Beruf und erläuterte: „Jemand beauftragt mich, eine Komposition zu schreiben, und dann tue ich das.“ Eine Komponistin also. „Sie brauchen mich, und sie wollen mich. Und sie bezahlen mich. Es sind diese drei Punkte. Es liegt nicht an mir, zu entscheiden.“ 

Carla Bley, der Grande Dame der Jazz-Avantgarde, die es sich bei aller Ernsthaftigkeit ihrer musikalischen Arbeit auch im hohen Alter nicht nehmen ließ, ihren selbstironischen Witz sprühen zu lassen. Wörtlich durfte man nicht alles verstehen, was sie sagte. Manches aber schon, beispielsweise als sie vorsichtshalber einschränkte: „Ich arbeite nur für die Besten der Welt“.

Lovella May, genannt „Karen“, Borg, geboren am 11. Mai 1936 als Tochter eines Kirchenorganisten an der San Francisco Bay, hat oft die Geschichte erzählt, wie sie ihre erste Komposition schrieb: als kleines Mädchen malte sie Punkte auf ein Stück Notenpapier und gab sie ihrem Vater zum Spielen. Der schaute über das Blatt, sagte, das seien zu viele Noten, das könne man nicht spielen. Also nahm sie einen Radierer und radierte einige von den Noten aus. So konnte man das spielen. Pragmatisch, effizient und sehr direkt. Mit siebzehn zog sie nach New York, in die Hauptstadt des Jazz, weil
sie Miles Davis hören wollte und Charlie Parker, im Jazzclub Birdland fand sie einen Job als cigarette girl. Häufig stand sie in der Ecke bei den jungen Musikern, die Pläne für die permanente Revolution des Jazz schmiedeten. Es ging darum, die Art zu verändern, wie Jazzclubs funktionierten, diese sehr begabten jungen Wilden wollten so lange spielen, wie es sich ergab und nicht dauernd eine Pause machen müssen. Es waren immer wieder die gleichen Musiker, mit denen sie in der Ecke im Birdland stand, die Bassisten Gary Peacock und Steve Swallow gehörten dazu, später stieß auch Charlie Haden zu der Gruppe, doch es war ein Pianist aus Kanada, den sie besonders interessant fand: Paul Bley. Aus Karen Borg, die sich längst Carla Borg nannte, wurd bald Carla Bley. Und Paul Bley gab den Anstoß, der Carla Bley offiziell zur Komponistin machte.

„Paul sagte zu mir“, erinnerte sie sich fast 60 Jahre später: „’Ich habe morgen eine Aufnahme, schreib mir mal schnell eine Stunde Musik.’ Also habe ich das getan. Und geheimnisvollerweise waren die Stücke tatsächlich gut. Dann fingen andere an, mich zu fragen. Ich glaube, ich habe eine Nachfrage bedient. Zu dieser Zeit wollte sich niemand für eine längere Zeit mit seinem Bleistift hinsetzen und nachdenken. Sie alle hatten etwas zu sagen, sie wollten es schnell und mit voller Energie sagen – also das Gegenteil von Komponieren, wo du nur sitzt und lange nachdenkst. Ich war also verfügbar und wurde diejenige, die den langweiligen Teil des Jobs übernahm und ihn den Musikern gab, die dann den spannenden Teil erledigten.“  

Es war harter Stoff, den Carla Bley komponierte, skizzenhafte Kompositionen im Geist des Free Jazz, die eine fragile Balance herstellten: einerseits hatten sie genügend schwarze Punkte, um sich in die Erinnerung einzubrennen, andererseits blieben sie so offen und abstrakt, dass sie die Improvisatoren nicht in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkten.

Einige Jahre später, 1964, stellte sich die Jazz Composers Guild, ein Zusammenschluss des harten Kerns der New Yorker Jazz-Avantgarde, mit einer Veranstaltungsreihe dem Publikum, bei der auch das Jazz Composers Orchestra sein Debüt feierte. Große Teile des Programms stammten von der einzigen Frau in der Initiative, Carla Bley, die mit diesem Orchester den Einstieg schaffte in das große Format, das lange Zeit einen Schwerpunkt in ihrem Schaffen darstellte, das Großprojekt „Escalator Over the Hill“ folgte, für Charlie Hadens Liberation Music Orchestra schrieb sie über Hadens Tod im Jahr 2014 hinaus die Arrangements, und die Big- und Very Big Bands unter ihrem eigenen Namen zählten jahrzehntelang zu den renommiertesten Großformationen des Jazz.

Erst gegen Ende des Jahrtausends wurde es stiller um die Komponistin und Orchesterleiterin Carla Bley. 1989 hatte sie mit dem Duo-Album „Go Together“ die privaten Bande zu Steve Swallow, dem Bassisten, der schon 35 Jahre zuvor zu dem Kreis im Birdland gezählt hatte, offiziell verkündet, und eine neue Phase in ihrem Schaffen eingeläutet. Swallow bestärkte sie darin, neben der kompositorischen Arbeit wieder mehr selbst zu spielen. Also machte Carla Bley sich an die Arbeit, übte und übte noch einmal, täglich sowieso, und so nach und nach begann sie zu verstehen, was sie als Komponistin unterschwellig schon immer ausgedrückt hat: dass es in der Musik nicht darauf ankommt, die schnellste, virtuoseste, überwältigendste von allen zu sein, sondern das, was man musikalisch zu sagen hat, so auszudrücken, dass es bei denen, die zuhören auch ankommt. In diesem Bewusstsein setzte sie sich immer begeisterter dem Stress aus, dass jeder Moment zählt und der Befriedigung, dies zu genießen. Jetzt erreicht die Welt die traurige Nachricht ihres Todes: Am 17. Oktober 2023 ist Carla Bley im Alter von 87 Jahren gestorben.

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