Musiktipps

NZZ: „Ich bin längst in die Musik emigriert“ – der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov von Andreas Zurbriggen, Berlin

Er zählt zu den bedeutendsten lebenden Komponisten Osteuropas. Mit 84 Jahren sah sich Silvestrov nun gezwungen, sein Heimatland zu verlassen. In der Ukraine ist seine charakteristisch leise Musik dennoch zu einem wichtigen Ausdruck des Protests geworden.

Als Valentin Silvestrov Anfang März mit Tochter und Enkelin die Flucht aus Kiew antritt, trägt er nur ein einziges Gepäckstück bei sich. Mit einem Koffer voller Manuskripte steigt er in einen Bus, der ihn auf Umwegen in den Westen des Landes fährt. Auf der mehrtägigen Reise verbringt er eine Nacht in einem verlassenen Kindergarten. Nach der Ankunft in Lwiw helfen Journalisten der Deutschen Welle dem Komponisten, an die polnische Grenze zu gelangen. Dort wartet der junge weissrussische Dirigent Vitali Alekseenok, der die Familie Silvestrov schliesslich per Auto an den Zielort Berlin fährt.

Zuvor war es einige Jahre lang ruhig gewesen um den 1937 in Kiew geborenen Valentin Silvestrov. Mit seiner meditativen, stilistisch wenig avancierten Musik wirkte er wie aus der Zeit gefallen. Dessen ungeachtet komponierte er unbeirrt weiter. Auf dem Flügel seiner Kiewer Plattenbauwohnung, die er seit Jahrzehnten bewohnt, entstanden schon während der frühen Phase der Pandemie unzählige kurze Klavierwerke, Bagatellen, aber auch grossangelegte Kantaten. Diese Musik wollte Silvestrov auf seiner Flucht retten, da sie bis dahin weder den Weg zum Verlag noch in seinen Vorlass gefunden hatte, der im Archiv der Paul-Sacher-Stiftung in Basel verwahrt wird.




© NZZ, Feuilleton, 16.5.2022

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