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Release Date: 23.2.2024

Musik von Kim Myhr & Kitchen Orchestra, Aviva Endean / Henrik Olsson oder Komposition vs. Improvisation. Auch im neuen Jahr wird es die Release Date’s Reviews geben, denn Zeit ist kostbar und die Anzahl der Neuveröffentlichungen ist wieder unüberschaubar….

Kim Myhr & Kitchen Orchestra: Hereafter / Sofa

Das norwegische Label SOFA feiert seine 100. Veröffentlichung mit der wunderschönen Komposition „Hereafter“ des Gitarristen und Komponisten Kim Myhr, die für das 15-köpfige Ensemble Kitchen Orchestra aus Stavanger geschrieben wurde. Die Komposition entstand 2020 während der Covid-19-Pandemie, als der norwegische Ministerpräsident der Bevölkerung mitteilte, dass man darauf vorbereitet sein müsse, jemanden zu verlieren, der einem am Herzen liege, und kann als eine Meditation über Sterblichkeit und Vergänglichkeit betrachtet werden. „Für mich geht es in diesem Stück um die Anerkennung und Akzeptanz von Katastrophen“, sagt Myhr.

Während der monatelangen Komposition der Musik summte Myhr immer wieder das indisch-bengalische Lied „Raag Miyan Ki Malhar“, gesungen von Salamat Ali Khan in Satyajit Rays Filmklassiker Jalsaghar (1958), in der Szene, in der der Sohn und die Frau des Hauptdarstellers in einem Sturm sterben. Die eindringliche Traurigkeit dieses Liedes entsprach der Stimmung des Augenblicks und wirkte wie eine Unterströmung für Hereafter, so dass Myhr diese Komposition als Morgen- und Abend-Raga konzipierte, wobei der erste Teil dunkler und der zweite Teil erhebender ist. Die Komposition wurde im September 2020 im Tou Lyd in Stavanger aufgenommen und Myher fügte bis 2023 weitere Schichten hinzu.

Diese elegische und minimalistisch-atmosphärische, 11-sätzige Komposition taucht nicht in ernste Gefilde ein und erhebt sich nur selten in ekstatische Gefilde, sondern endet mit hellen, zerbrechlichen Lichtern. Hereafter ist eine bewegende, lebensbejahende Komposition mit einer starken Gravitas, die durch ihren hypnotischen und verführerischen Puls und viele Variationen dunkler Schattierungen zum Ausdruck kommt. Diese Komposition akzeptiert den vergänglichen, unvermeidlichen Zyklus von Leben und Tod, von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sowie von Meer und Küste (wie auf dem wunderschönen Titelbild der französischen Filmemacherin und Fotografin Eléonore Huisse zu sehen) als ewige Quelle der Vitalität und Kreativität. © Text: Label



Wie so oft bei Kim Myhr entwickelt sich seine Musik langsam und in verschiedenen Schichten. Dafür nimmt er sich wieder sehr viel Zeit, manchmal schaue ich auf die Uhr… will sagen: Man muss sich darauf einlassen – einlassen können. Denn nach und nach entwickelt sich das Ganze, wird immer komplexer und entwickelt seine ganz eigene Faszination. Für diejenigen, die diese Geduld aufbringen, und das will in unserer schnelllebigen Zeit viel heißen, wird es glückliche Momente geben oder auch nicht.


Aviva Endean / Henrik Olsson – Split Series Vol. 2 / Frim Records

Lebendige Split-Veröffentlichung von FRIM Records mit zwei ausgedehnten, live aufgenommenen Solokonzerten von zwei hochgelobten Improvisatoren: Aviva Endean und Henrik Olsson. Die Australierin Aviva Endean und der Schwede Henrik Olsson sind zwei angesehene Persönlichkeiten im Bereich der improvisierten Musik auf globaler Ebene. Im November 2022 gaben sie einen gemeinsamen Abend im Stockholmer Rönnells Antikvariat, einem Buchladen und Musiklokal. Nun wird ihre Verbindung durch die Veröffentlichung einer gemeinsamen CD erweitert, dem zweiten Teil der fortlaufenden Split-Serie von FRIM Records. © Text: Label


Nach ihrer ersten Soloaufnahme für das norwegische Label Sofa im Jahr 2018, bei der sie ausschließlich auf akustischen Instrumenten improvisierte, entwickelte Aviva Endean neue Fähigkeiten, als es darum ging, Moths & Stars aufzunehmen. In ihren eigenen Worten war es ein Weg, disparate Klangstränge miteinander zu verflechten, mit dem Zeit- und Raumgefühl des Hörers zu spielen und unser Bewusstsein für die spürbaren Qualitäten des Klangs zu schärfen, indem sie extreme Nahmikrofontechniken, Tonabnehmer und die Verwendung von Aufnahmen in großen akustischen Räumen verwendete. Wie bei Moths & Stars sind auch bei der auf dieser CD vorgestellten Komposition die Instrumentalteile nicht nur mit Lo-Fi-Elektronik und Feldaufnahmen, sondern auch mit Gesang und natürlich Klarinetten verwoben. Indem sie verschiedene Umgebungen schafft, die sie nicht so schnell verlässt, ist dies eine sich entwickelnde Komposition. Die Luftströme aus rotierenden Kunststoffrohren, die voraufgenommenen Field Recordings und die folkloristische Flöte erzählen eine etwas andere Geschichte als die elektronisch entwickelten Klänge des Weltraums, die sie mit all seiner umfassenden Dunkelheit erzeugt. In dieses klangliche Umfeld bringt sie ihre Klarinetten ein und lässt sie mit erweiterten Techniken und Zirkularatmung neue polyphone Umgebungen aufbauen. Wenn man an den Titel Moths & Stars denkt, wird die Komposition ganz körperlich, indem sie an irdisches Leben und räumliche Leere erinnert, man könnte sie fast als eine Art Old-Time-Programmmusik bezeichnen. Indem Aviva Endean nicht nur die Klangquellen, das Akustische und das Elektronische, den verschiedenen Techniken gegenüberstellt, führt sie die Musik mutig in verschiedene Stimmungen und Atmosphären. Eine Obertonflöte und sogar einige psychedelische Klänge in diese elektroakustische Umgebung zu bringen, ist eine mutige Sache. Und es ist sehr gut gelungen. © Text: Magnus Nygren / Booklet



Auch wenn Sie einiges davon in den hier vorgestellten Kompositionen wiedererkennen werden, sind die Werkzeuge, die er verwendet, ganz anders als üblich. Alles begann mit einer Einladung der schwedischen Komponistin Rosali Grankull und der Textilkünstlerin Hanna Norrna zur Komposition und Aufführung der Klang-/Textilausstellung Common Ground im Jahr 2020 in der Stadt Strömstad. Inspiriert von der Installation in der großen Halle von Lokstallet und ihrer Art, die Menschen zu erreichen, verspürte Olsson bald das Bedürfnis, seine Komfortzone zu verlassen und neue Werkzeuge für seine Arbeit zu finden.
Um die Fragilität und Leichtigkeit, die er in der Installation von Grankull und Norrnas erlebte, auszugleichen, beschloss Olsson, akustische Klangquellen als Komponenten für seine eigenen Kompositionen zu verwenden. Mit zwei selbstgebauten Plattenspielern und einer Reihe von Objekten legte er ein akustisches DJ-Set auf, bei dem er mit den Klängen seiner eigenen Kreation und den Klängen der bestehenden Klanginstallation arbeitete und so eine Art Spieluhr schuf. Die „Schallplatten“ waren so unterschiedlich wie Glas, eine kleine Trommel oder Metallschalen, und als „Tonabnehmer“ diente alles von einem Gummiball bis zu einem Bambusstab oder einem Aluminiumblech.
 © Text: Magnus Nygren / Booklet




Zwei Improvisationen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Vielschichtig, raumgreifend und vielfältig in der Wahl ihrer musikalischen Mittel weiß Aviva Endean zu überzeugen und zu fesseln. Seit 2018 verfolge ich ihre musikalische Entwicklung, die vielen unterschiedlichen Projekte und bin immer wieder erstaunt, wie sie sich in verschiedenen Kontexten einbringen und klingen kann. Nehmt euch die Zeit und schaut euch Aviva Endeans Performance an und glücklicherweise gibt es auch das Video dazu. Hier wird noch deutlicher, mit welchem Ideenreichtum sie die gut 30 Minuten füllen kann. Und da ist ihre bewundernswerter Beherrschung der Zirkularatmung bis ins Kleinste, kurz: ich bin total fasziniert.

Was Henrik Olsson erdacht und gebaut hat, ist schon erstaunlich. Ein Gestell mit einem Trommelfell auf einen Plattenspieler zu spannen, um dann mit verschiedenen Materialien die unterschiedlichen Klänge aufzunehmen, das hat mich schon gefesselt. Nur mit der Zeit sind die begrenzten Möglichkeiten der Materialien schnell erschöpft. Ich denke, da steckt noch viel Potential drin, das Henrik Olsson sicher bald entdecken und ausbauen wird. Auch zu dieser Improvisation gibt es ein Video.
In diesem Vergleich überzeugen mich Improvisationen mehr als die Komposition von Kim Myhr. Aber das hört sicher jeder anders.

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