Wir erinnern uns an die große Zeit des Art Ensemble of Chicago und können danach in den Klangwelten von Geins’t Naït, Laurent Petitgand und Scanner schwelgen. Dass unsere Aussichten düster sind wird vom Duo AMP musikalisch untermauert, danach geleiten uns die Gitarren Drones von Scatterwound in eine Church of Sound.
11 Releases, die am 3.3.23 erschienen sind und die ich auf meinem Tisch habe. Das ist eine Menge und natürlich erscheint an diesem Tag noch viel, viel mehr. Dass ich mich auf ein paar konzentrieren muss, liegt auf der Hand. Die Bandbreite ist enorm und für viele reicht es nur für ein Hineinhören und das wird ihrer Musik nicht gerecht. So werden am Ende der Vorstellungen, denen ich mehr Zeit widmen konnte, alle gelistet, für die es nicht reichte und die, für den einen oder anderen eine Entdeckung sein können.

Art Ensemble Of Chicago – Les Stances à Sophie / playloud!
Musiker wie Ornette Coleman und John Coltrane bildeten Anfang der 1960er Jahre die Speerspitze der Free Jazz-Bewegung. Sie definierten nicht nur ein musikalisches Konzept, sondern begannen auch, das Konzept des afroamerikanischen Musikers in der Gesellschaft neu zu definieren. Die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) wurde 1965 in Chicago von Muhal Richard Abrams gegründet und umfasste Mitglieder wie die späteren Mitglieder des Art Ensemble of Chicago, Bowie, Jarman, Mitchell und Flavors, aber auch Anthony Braxton und Amina Claudine Myers. Das AACM beschäftigte sich mit experimenteller Musik und begann mit der Förderung von Konzerten, der Vermittlung von Musik und schwarzer Geschichte sowie der spirituellen Begleitung von Jugendlichen in der Chicagoer Gemeinde.

Kurz vor Ende des zweijährigen Aufenthalts des Art Ensemble of Chicago Ende der 60er-Jahre in Paris erhielt Lester Bowie (1941–1999) die Anfrage des damaligen Regiedebütanten und späteren Oscar-Preisträgers Moshé Mizrahi (1931–2018), die Filmmusik für dessen Erstling „Les Stances à Sophie“ aufzunehmen. Die Gruppe war schon fast am Abflug, eilte aber unter Einschluss der Vokalistin Fontella Bass, Ehefrau von Lester Bowie, noch in ein Pariser Studio und nahm am 22. Juli 1970 in einem Zug acht ausgesprochen heterogene Stücke, von Monteverdi über Free Jazz und Afrikanischem hin zu unverschnittenem Soul jener Zeit. „Thème de Yoyo“ mit der Stimme von Fontella Bass (1940–2012) sollte zu einem Markstein werden. Die Sängerin bescherte dem Chicagoer Chess Records Label 1966 mit „Rescue Me“ einen Millionenseller, 10 Jahre nach Chuck Berrys großem Erfolg mit „Maybellene“. Das Album mit der Filmmusik, das bis zur Neuauflage im Jahre 2000 lange Zeit vergriffen war, wurde zum Kultalbum. Der Film feierte am 3. Februar 1971, lange nach der Rückkehr der Gruppe in die USA, seine Premiere. © Text: Berliner Festspiele

Geins’t Naït + Scanner + Laurent Petitgand – Ola / Ici d’ailleurs
Seit 2014, als die Serie Mind Travels [Ici, d’ailleurs] ins Leben gerufen wurde, arbeiten Geins’t Naït und Laurent Petitgand mit viel klanglichem Experimentiergeist und ungebrochener Leidenschaft an einem Projekt nach dem anderen.
Es ist daher nicht verwunderlich, das fünfte Album „OLA“ dieser Zusammenarbeit in unserer Sammlung zu finden die der „Ambient-, Neo-Klassik- und Industrial-Musik“ gewidmet ist.
Nach „Je vous dis“ 2014, „Oublier“ 2015 und „Like This Maybe Or This“ im Jahr 2020 ist die Gruppe, die wir GN+LP nennen, ein Aushängeschild unseres Sublabels, und diese neue Veröffentlichung „OLA“ verstärkt diese Assoziation. Geins’t Naït und Laurent Petitgand sind seit mehr als 30 Jahren musikalische Aktivisten, zwei sehr einzigartige Musiker, die aus zwei verschiedenen Schulen kommen und deren Zusammenarbeit alles andere als offensichtlich war: die industrielle und experimentelle Szene für Thierry Mérigout (das letzte aktive Mitglied der Gruppe Geins’t Naït) und für Laurent Petitgand, der für seine Filmmusik bekannt ist, insbesondere für seine Zusammenarbeit mit Wim Wenders. Diese beiden Künstler haben auf den ersten Blick unterschiedliche Visionen, aber sie haben gemeinsame Wurzeln und einen gegenseitigen Respekt. Vor kurzem waren sie auch in einem Dokumentarfilm von Otomo de Manuel zu sehen: „So Young But So Cold“, ein Spielfilm über die Nancy Punk/No Wave-Szene.
Für das Album „OLA“ hat sich das GN+LP-Duo mit einem Künstler zusammengetan, der für Ambient- und IDM-Fans alles andere als unbekannt ist: Scanner alias Robin Rimbaud, denn trotz des französisch klingenden Namens ist er Engländer und lebt in London.
Der Engländer ist ein Virtuose der Klangcollage, ein Klangplastiker, einer der präsentesten in der elektronischen Szene seit den 90er Jahren. Er hat mehr als zwanzig Alben auf so renommierten Labels wie Sub Rosa oder New electronica produziert. Er ist ein Fan von Kollaborationen und hatte im Laufe seiner Karriere die Gelegenheit, mit vielen Künstlern zusammenzuarbeiten, darunter Kim Cascone oder Alva Noto, um nur einige zu nennen. Wir können sagen, dass diese Kombination: Geins’t Nait + LP + Scanner ist explosiv. Vom ersten Track „MT26“ an verstehen wir schnell das das Potenzial dieser Trio-Formel. Nach drei eher ruhigen einleitenden Minuten, die mit modifizierten Stimmen und Field-Recordings gespickt sind, entwickelt sich der Track allmählich zu einem rhythmischen Stück. Die Schleifen verschmelzen und wiederholen sich, lösen sich manchmal auf und füllen sich mit industriellen Klängen und mehr oder weniger Schwermetall. Diese Struktur findet sich in mehreren Tracks wie „OLA“ oder „MOUCHE“, zwei hypnotischen Tracks von mehr als sieben Minuten, die an Autechre oder Muslimgauze erinnern könnten. Wir entdecken auch eine Hommage
eine Hommage an Gilles Deleuze auf dem Track „GILLES“, in dem GN+LP+Scanner die Konferenz des Philosophen „Was ist der Akt der Schöpfung? Gilles Deleuze taucht regelmäßig im Werk von Geins’t Nait auf. © Text: Label

AMP – ECHOESFROMTHEHOLOCENE / Ampbase
Das neue Album von Amp, ECHOESFROMTHEHOLOCENE, ist eine Reaktion auf den aktuellen ökologischen und politischen Crash, den wir in Echtzeit miterleben. Diese Sammlung ist ein Klagelied aus der Zukunft an ein verlorenes Ökosystem. Zerstört durch eine kapitalistische Gesellschaft, durch ihre unaufhörliche gierige Vergewaltigung des Planeten im Streben nach Profit. Stellen Sie sich vor, was ein Besucher dieses Planeten vorfinden könnte, nachdem die letzten Menschen ihn verlassen haben. In was für einem Chaos würde sich der Planet befinden? Die Tracks bilden eine Art narrativen Bogen, der das Auffinden von zurückgelassenen Aufnahmen und Notizen durch den besagten Reisenden und die traurigen Reflexionen über das, was die Menschheit einer einst erhabenen und schönen Welt angetan hat, beschreibt. © Text: Label


SCATTERWOUND – Trilogy Live / Midira Records
Scatterwound alias Dirk Serries (Belgien) und N (Deutschland) kehren mit einem fulminanten Dreifach-Album zu Midira Records zurück, das drei Festival-Sets aus der Zeit vor der Pandemie enthält. Das Album zeigt, wie das Duo seine improvisierten Sets an die Orte anpasst, an denen sie spielen. Alles beginnt mit einer frühen Aufnahme aus dem Jahr 2017, wo Scatterwound ein kumulatives Set in einer Kirche in Duisburg beim Platzhirsch Festival spielten. Auch wenn das Set seine lauten Teile hat, ist es eines der ruhigeren Werke des Duos. Eine knisternde und schwirrende Schönheit. © Text: Label

Das zweite Set ist eines der stärksten Sets von Scatterwound, gespielt beim Roadburn Festival 2018. Ursprünglich als Trio-Set mit Justin K Broadrick geplant, veranlasste eine Reiseverspätung das Duo, ohne den besonderen Gast zu spielen. Das Ergebnis ist ein röhrendes Drone-Biest. Ebbend, fließend und sich zu massiven Drone-Wänden auftürmend. 2019 kehrten Scatterwound zum Moving Noises Festival zurück, wo sie 2017 ihr Debüt spielten. Diesmal als Trio, mit Martina Verhoeven am präparierten Klavier, mussten Scatterwound ihre Drones zurückhalten, um die Klaviersounds in die Soundwalls des Gitarrenduos hineinwachsen zu lassen. © Text: Label.
Ich habe das „Art Ensemble of Chicago“ aus dieser großen Anzahl an Veröffentlichungen ausgewählt, weil ich nicht davon ausgehen kann, dass ihr sie alle kennt. Natürlich spielt es auch eine Rolle, dass ich ihre Musik liebe. Und dieses Album ist ein perfekter Einstieg in den Klangkosmos des „Art Ensemble of Chicago“. Und der Vollständigkeit halber würde ich die Aufnahmen mit Lester Bowie bevorzugen. Diese haben eine eigene Qualität. Dass der Geist in einem neuen Ensemble weiterlebt, finde ich ganz hervorragend. „Les Stances à Sophie“ kann kostenlos angehört werden und erleichtert das Kennenlernen ungemein.
Eine kleine Anmerkung noch. Leider werden immer noch die alten und falschen Texte über die Aufnahmen zu „Les Stances à Sophie“ weiterhin kopiert, die nicht stimmen. Fontella Bass war die Frau von Lester Bowie, der als Musiker auch mit dabei war. Und er wird in den kopierten Texten komplett unterschlagen. So als wäre er gar nicht dabei gewesen. Schade, dass sich niemand die Mühe macht, es zu korrigieren.
Die Arbeiten von Geins’t Naït und Laurent Petitgand sind mir vertraut und ich mag ihre Art des Musikmachens und natürlich die Ergebnisse sehr. Die Zusammenarbeit mit Scanner ist da eine willkommene Bereicherung. Und sie ergänzen sich auf eine ganz organische Weise. Seine Einschübe mit Feldaufnahmen und eingefangenen Stimmen erweitern die Sounds von Geins’t Naït und Laurent Petitgand um eine weitere, vielfältige Klangfarbe. Scanner alias Robin Rimbaud dürfte vertraut sein. Hier gibt es einen guten Beitrag über ihn.
Es sind ausgetüftelte Klangdesigns, die oft auch einen sanften Groove haben. Andere klingen wieder etwas rauer und wir hören Gilles Deleuze (Gilles). „Ola ist mein Kampfhund, ich wollte schon lange einen haben: Habt keine Angst vor ihm, zähmt ihn.“
Kurz: Ola ist ein Fest für die Ohren.
AMP sind ein Duo bestehend aus Karine C. und Richard A. Es ist nicht verwunderlich, dass bei diesem Thema der Sound grundsätzlich eher düster ist. Als Einstieg in diese Welt sollte „To the Night (Falls)“ sein. Ein langes, ruhiges Stück, das ein wenig an Satie erinnert. Die Stimme schmiegt sich an die Klaviermelodie, verlängert durch die sanften Sounds von Streichern und Synthesizern, die Stimme verdoppelt sich, vervielfältigt sich, demütig und so sanft in ihren Schleiern der Verzweiflung. Trotz aller Düsternis ist das Ergebnis nicht zum Verzweifeln.
Ich mag den Gitarrensound von Scatterwound alias Dirk Serries sehr, wie er Schichten um Schichten übereinander legt und sich dafür unendlich viel Zeit lässt. Aber am spannendsten fand ich das Duo mit Martina Verhoeven. Auch wenn man sie zwischendurch gar nicht mehr hört, dennoch bereichern ihre Improvisationen auf dem Flügel die Klanglandschaften von Scatterwound sehr.