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Release Tipp: Cornelius Cardew – Treatise performed by Francesco Fusaro / CD 19’40’’

In dem Moment wo ich mich in dem Glauben befand, ich könne mich mehr mit „Treatise“ von Cornelius Cardew befassen, hatte ich schon verloren. Wie konnte ich auch nur denken, dass meine wenige Zeit dafür ausreichen könnte, einen Meilenstein zu fassen. So wird diese neue Einspielung von „Treatise“ nur die Aufforderung sein, sich mit diesem Werk und seinem Schöpfer Cornelius Cardew auseinander zusetzen.


Francesco Fusaro, italienischer NTS-Radio-DJ, Musikproduzent und Musikwissenschaftler, lebt in London. Er hat für italienische und internationale Medien über Musik geschrieben und Musik unter seinem richtigen Namen und anderen Namen bei mehreren unabhängigen Labels veröffentlicht. Er ist außerdem Mitkurator der „anti-klassischen“ Aufnahmeserie 19’40“.


Treatis 01

Treatise ist eine grafische Partitur, die ohne Bezug auf ein Regelwerk für die Interpretation komponiert wurde. Sie wurde 1963 begonnen und ist immer noch unvollständig; die hundert Seiten, die jetzt fertig sind, machen etwas mehr als die Hälfte des gesamten Werks aus. Die Länge der Partitur rechtfertigt das Fehlen eines Interpretationssystems; das grafische Material wird so erschöpfend behandelt, dass sich eine (musikalische oder andere) Interpretation quasi unbewusst im Kopf des Lesers während der Lektüre der Partitur herausbilden kann. Es können beliebig viele Musiker mit beliebigen Instrumenten mitwirken. Jeder Musiker spielt aus der Partitur, wobei er sie im Hinblick auf sein individuelles Instrument und seine Neigung liest. Einige allgemeine Entscheidungen können im Voraus getroffen werden, um die Aufführung zusammenzuhalten, aber ein improvisatorischer Charakter ist für das Stück wesentlich. Die Wertschätzung oder das Verständnis für das Stück sollte bei der Aufführung in etwa so wachsen wie die Interpretation der Musiker. Die Orientierung ist langsam, im Verhältnis zur Länge des Stücks, aber sie ist spontan, da keine spezifische Orientierung vorgeschrieben ist.

Cornelius Cardew, „Abhandlung: Résumé of pre-publication performance,“ in Treatise Handbook, Edition Peters London, copyright Hinrichsen Edition Ltd. (1971)

Als junger Schüler von Karlheinz Stockhausen, Mitglied der bahnbrechenden Gruppe AMM und Gründer des Scratch Orchestra war Cornelius Cardew (1936-1981) einer der rastlosesten und entschlossensten Musiker und Komponisten des 20. Jahrhunderts. Jahrhunderts. Er war sich der Zusammenhänge zwischen Kunst und Leben, Kunst und Politik bewusst und definierte seine Musik als „Musik zur Befreiung des Volkes“. In den 1960er Jahren näherte er sich den Sprachen der musikalischen Improvisation und dem Denken Wittgensteins, dessen Abhandlung (über die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit und die Definition der Grenzen der Wissenschaft) sein Meisterwerk inspirierte.

Mit AMM trug er zur Entstehung der freien Improvisation und der Avantgarde-Populärmusik in England bei. In den 1970er Jahren wurde er zu einem militanten Maoisten und brach mit dem Scratch Orchestra mit der Avantgarde und komponierte Hymnen und Interventionslieder für die Arbeiterklasse. Im Zuge dieses Bruchs veröffentlichte er das umstrittene Pamphlet „Stockhausen Serves Imperialism“.

Das „Treatise“ von Cornelius Cardew, das als der „Mount Everest“ der grafischen Partituren gilt, wurde 1963 begonnen und 1967 fertiggestellt. Es besteht aus 193 Seiten, auf denen eine große Anzahl grafischer Elemente kombiniert wird, die eine lange visuelle Komposition bilden (Zahlen, Formen und Symbole, von denen einige mit der klassischen musikalischen Nomenklatur verwandt sind, jedoch ohne jegliche Hypothese einer absoluten Interpretation).

Cardew hat die Ausführung des „Treatise“ weder präzisiert noch instruiert. Es gibt keine erläuternden Anmerkungen oder Zweifel. Vielmehr ist es als eine Landschaft angelegt, die für eine beliebige Anzahl von Musikern und Instrumenten (akustisch, analog oder digital) offen ist. Ermutigung zur Improvisation. Es wird suggeriert, dass die Interpreten die Regeln (ihres) Spiels vorher selbst definieren.

In seiner ganzen ästhetischen Bandbreite und visuellen Wirkung stellt das „Treatise“ (seine) Performativität immer wieder in Frage und unterwirft sie manchmal sogar. Durch die Freigabe von Musik, die historisch an die konventionelle Notation gebunden ist, ist sie ein inspirierender Meilenstein in der Forderung nach neuen Formen und Klangsprachen. © Liner Notes: Joao Silva

Treatis 04

Klasse Idee. Wir und hören zugleich, was eine tolle Erfahrung ist.

Es war als hätte ich eine Tür aufgestoßen, einen Blick hinausgeworfen um aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen. Seiten über Seiten, die sich mit diesem „Mount Everest“ der grafischen Partituren befassen. Einspielungen die sich „streng“ an die Partitur halten: das Spektrum geht hier von elektronischem Ansatz, wie bei Francesco Fusaro, bis hin zu Jazzbearbeitungen einer argentinischen Gruppe oder dem sehr gelungenen Projekt von Joao Silva.


Nachdem ich die vergangene Zeit genutzt habe, um mich durch verschiedene Versionen von „Treatise“ durchzuhören, würde ich – Salopp formuliert – die Version von Francesco Fusaro als die zugänglichste bezeichnen.
Das Sounddesign bewegt sich auf dem Niveau alter Science Fiction bzw. alter Filme. Und bei den jüngeren Zuhörern ist elektronische Musik per se einfacher zu „konsumieren“. Klassisches Intrumentarium ist nunmal für viele Hörer immer noch eine Barriere, leider.
Geschickt mischt er die Zutaten wie Fieldrecordings, Klavier und Percussions, wodurch mit der Zeit ein gewisser Flow entsteht und das Ganze weniger Abstrakt wirkt. Fusaro arbeitet als DJ auf NTS Radio, wo er innerhalb seiner Tafelmusik-Reihe klassische Musik und Artverwandtes vorstellt und so sehe ich diese Veröffentlichung, als eine Möglichkeit neue Hörer zu finden. Womit ich seine Arbeit überhaupt nicht schmälern möchte, ganz im Gegenteil.


Zum Schluss möchte ich noch auf gefundene Treatise Versionen hinweisen, die in ihrer Bandbreite die Möglichkeiten einer solchen Partitur aufzeigen. Eine lohnende Sache, wie ich finde.
Auch allein die vielen theoretischen Arbeiten, die sich mit diesem Werk auseinandersetzen, sind eine Fundgrube für viele, viele Stunden.

  • https://joao-silva.bandcamp.com/album/treatise-1-33
  • https://losimprovisadoresgraficos.bandcamp.com/album/treatise
  • https://bumsteinas.bandcamp.com/album/treatise
  • https://gerauschhersteller.bandcamp.com/album/treatise-cornelius-cardew
  • https://edpettersen.bandcamp.com/album/cornelius-cardews-treatise
  • https://dreammaps1.bandcamp.com/album/treatise-by-cornelius-cardew
  • https://germanexplainingstation.bandcamp.com/album/cardew-treatise-vol-1-pages-1-24
  • https://erstwhilerecords.bandcamp.com/track/treatise-cornelius-cardew-pp-82-84
  • https://mtmmtm.bandcamp.com/album/cornelius-cardews-treatise-pages-1-60
  • https://noelakchote.bandcamp.com/album/cornelius-cardew-the-great-treatise-serves
  • https://nsnn.bandcamp.com/album/cardews-treatise

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