CD TIPPMusiktipps

Soundexpeditionen 5/21 „Zwiegespräche – Musiker im Doppelpack“

Musik von Sissel Vera Pettersen & Randi Pontoppidan, Axel Dörner & Richard Scott, Alberto Braida & Giancarlo Nino Locatelli, Derek Bailey & Mototeru Takagi und Jean-Philippe Gross & Jérôme Noetinger.


Aktuell trifft mich mein Zeitmangel mehr als sonst. Der Berg der zu besprechenden Veröffentlichungen wird immer größer und so muss ich diese verkürzte Form wählen. Im Übrigen bin ich gespannt was Eure Duo Favoriten sind. radiohoerer


Die Geschichte des Duos in der Musik hat eine lange Tradition. Ella Fitzgerald und Joe Pass sind ein Kapitel davon. Als Beispiel der heutigen Zeit würde ich Ivo Perelman und Matthew Shipp anführen. Es ist eine Art des blinden Verstehens und der fließenden Kommunikation. Das kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, denn manchmal gelingt diese Kommunikation oder auch nicht. Heute, dank aktueller Technik, kann man auch mit sich selbst in einen Dialog treten.


AXEL DÖRNER & RICHARD SCOTT „A Journal of Elasticity“
BOHEMIAN DRIPS, BD014

Der Trompeter Axel Dörner, der überwiegend im Jazz zu Hause ist, ist international auch in anderen Kombinationen zu hören. Ein wacher Geist also, der sich überall wohlfühlt, wenn es um spannende Konzepte jenseits der ausgefahrenen Pfade geht. Den meisten wird er als Mitglied der Jazzgruppe „Die Enttäuschung“ bekannt sein. Aber das ist nur ein kleiner Teil seiner zahlreichen musikalischen Aktivitäten. Mein Favorit aus seiner Diskografie ist „Omdrejninger“ von 2015.

Richard Scott ist ein britischer Komponist, Improvisator und Produzent. In den frühen achtziger Jahren war er eng mit dem London Musician’s Collective verbunden. Scott zog 1991 nach Manchester und lebt derzeit zwischen Manchester und Berlin. Er studierte Saxophon bei Elton Dean und Steve Lacy und spielte viele Jahre lang in Gruppen wie Bark! und Pool. Nahm 1992 The Magnificence of Stereo mit Rex Casswell auf. Promotet Auxxx und die Basic Electricity Konzertreihe in Berlin. Er spielt jetzt mit analogen modularen Synthesizern und Laptop mit verschiedenen Controllern wie Buchla Lightning, WiGi und Buchla Thunder.

Richard Scotts und Axel Dörners Journal of Elasticity ist eine zweiteilige ortsspezifische Komposition, die am großen Wasserreservoir in Berlin-Prenzlauer Berg aufgenommen wurde. Einmal spielen sie mit der Akustik des leeren Raumes als drittem Akteur und einmal mit der Präsenz des Publikums, so ist ihr bohemian drips Debüt eine fesselnde Studie über Raum und Intensität.


„Dieses Gefühl der ständigen Mehrdeutigkeit und Elastizität zwischen uns beiden und zwischen dem Zuhören und dem Treffen von Entscheidungen wurde bei diesen beiden Aufnahmen durch den Einfluss der faszinierenden klanglichen Umgebung noch vervielfacht“, fährt Scott fort. „Ich bin mir nicht sicher, wie gut eine Aufnahme bezeugen kann, wie nicht-linear die Umgebung war, die ein eigenes interaktives kompositorisches Element darstellte und buchstäblich bei jedem unserer Klänge transformative Möglichkeiten und Grenzen schuf. Obwohl es Hochsommer war und bei weitem die heißeste Zeit des Jahres draußen, erinnere ich mich, dass es da drinnen auch verdammt kalt war. Ist das hörbar? Vielleicht…“

Richard Scott

Diese Musik mit Kopfhörern zu hören ist Pflicht. Alles wurde mit einem binauralen Kunstkopfmikrofon (Neumann KU-100) aufgenommen und unter Kopfhörern entfaltet sich der ganze Reichtum an Farben und Nuancen besonders gut. Ein spannendes, akustisches Erlebnis.


SISSEL VERA PETTERSEN & RANDI PONTOPPIDAN: Inner Lift LP/CD Chant Records CR2105RA

Was passiert, wenn zwei Vokalartistinnen der Extraklasse aufeinandertreffen? Die eine, Sissel Vera Pettersen, ist die Chefin von den Trondheim Voices, und die andere, Randi Pontoppidan, tourte weltweit mit Theatre of Voices, und hat mit Künstlern wie Greg Cohen Joélle Léandre, Thomas Buckner, Simon Toldam, Jamaladeen Tacuma, und IKI zusammen gearbeitet.

Nach verschiedenen gemeinsamen Arbeiten in größeren Besetzungen, ist dies ihr erstes Duo-Projekt.
Es wurde an einem Tag live im Village Studio bei Kopenhagen aufgenommen.


„Alle Effekte und elektronischen Bearbeitungen sind im Moment entstanden“, sagt Sissel Vera Pettersen. „Alle Klänge kommen von den Stimmen, der Zither oder Klangschalen, ohne vorgefertigte Loops oder Effekte. Wir hatten keine Laptops oder Software, nur die Hardware von Effektgeräten und Gitarrenpedalen. Das einzige Mögliche ist es, offene Ohren zu haben und zu versuchen keine der Ideen, die spontan kommen, zu filtern. Aber vor einigen Takes sagen wir vielleicht: „Lass uns etwas mit dem Klang des Atems“, oder wir versuchen etwas Melodisches mit den beiden Stimmen, die sich ineinander verweben, oder wir entscheiden uns, die Elektronik zu verwenden oder komplett akustisch zu arbeiten.“

Sissel Vera Pettersen


Sie schaffen es, eine bestimmte Atmosphäre zu suggerieren, die sich uns – auf eine möglichst natürliche und ruhige Art und Weise – aufdrängt und eine notwendige Auszeit von der uns umgebenden Alltagshektik ermöglicht. Und spätestens bei „Raindrops“ bin ich der Faszination der beiden Stimmen erlegen. Vor allem, und das finde ich sehr spannend, wie sie es mit wenigen Mitteln schaffen meine Aufmerksamkeit zu bündeln. Schichten um Schichten werden übereinandergelegt, die wir aufmerksam verfolgen können. Auch nach mehrmaligem Hören verflüchtigt sich dieser Eindruck nicht. Eine unbedingte Empfehlung.


ALBERTO BRAIDA, GIANCARLO NINO LOCATELLI „From here to there“ LP/CD We Insist! Records LPWEIN113

Das Album „From Here To There“ des italienischen Komponisten und Künstlers Alberto Braida am Klavier und Giancarlo Nino Locatelli an der Klarinette ist das Ergebnis einer 25-jährigen Zusammenarbeit. Entspannt, ohne Hektik wird hier musiziert. Eine Einladung zu einer Reise in eine sehr nächtliche, sehr intime und vor allem sehr gut aufgenommene Jazzmusik.

Als Beispiel ihres Zusammenspieles habe sie einen schönen Vergleich gewählt. Der Comic Zeichner und Filmemacher Gianni Pacinotti sagte sinngemäß folgendes:
„Wenn ich zeichne passieren immer wieder Dinge, die sich meiner Kontrolle entziehen und dieses Phänomen ist es, was ich am meisten Liebe an meinem Beruf… von Zeit zu Zeit Zeuge zu werden einer geheimnisvollen Manifestation: etwas entstehen zu sehen, das du nicht vorhergesehen hast, von dem du nichts wusstest; es ist eben nicht du, der entscheidet; nur weil du eine Zeit lang verschwunden bist, konnte entstehen, was jetzt existiert.“
(aus dem Interview mit Gipi von Nicola Mirenzi, Huffpost)


Auf dem Cover sitzen sie in einem Cafe an einen schönen alten Platz. Das alles strahlt eine unbeschwerte Stimmung aus. Diese Stimmung ist der Schlüssel zu ihrer Musik. Zwei alte Freunde sitzen zusammen und tauschen ihre Ideen aus. Ein intimes Gespräch entsteht, getragen vom Vertrauen, das in den vielen Jahren entstanden ist. Und weil es so schön ist, sitze ich gerade draußen, bei einem Kaffee und höre ihnen zu.


Derek Bailey / Mototeru Takagi – Live at FarOut, Atsugi 1987 NoBusiness Records

Das hier ist ein Fundstück. Die Gitarrenlegende der improvisierten Musik Derek Bailey im Dialog mit dem japanischen Saxofonisten Mototeru Takagi. Angesichts der Länge würde ich auf einen kompletten Konzertmitschnitt tippen. Für alle die es etwas rauer mögen, sei dies eine Empfehlung.


JEAN-PHILIPPE GROSS & JÉRÔME NOETINGER: Nos cadavres CD Eich 004

Es gibt eine große Tradition von Austausch und Schriftverkehr in der experimentellen Musik. In den 80er Jahren gab es eine Menge Kassetten mit Musikern, die sich nie getroffen hatten, aber Klänge per Post austauschten.
Heutzutage ist es noch einfacher und selbstverständlicher.

Die verhängte Sperrzeit – in Frankreich zwischen dem 17. März und 11. Mai, und zwischen dem 30. Oktober und 15. Dezember 2020 – war ideal für den Neustart solche Projekte. Jean-Philippe Gross und Jérôme Noetinger spielen seit 2009 mehrere Male als Duo zusammen. Sie beschlossen sie eine neue Form der Zusammenarbeit. Ein Musiker erstellte eine erste Sequenz und schickte nur die letzten 10 Sekunden an den nächsten, der dann seine Sequenz hineinmischte oder einfügte, und so weiter. Die ersten beiden „Cadavre“ wurden vom Cafe Oto Hauslabel Takuroku im Juli 2020 veröffentlicht.

Eich Records

Begeistert von dieser neuen Arbeitsweise, beschlossen Jean-Philippe Gross und Jérôme Noetinger, tiefer in die Materie einzusteigen. Jeder der vier „Cadavres“, die Sie auf dieser CD finden, wurde in nur einem
Tag realisiert, wobei jeder Musiker nur 30 Minuten Zeit hatte, seine Antwort zu erstellen. Das endgültige Ergebnis wurde nur geringfügig in Bezug auf die Lautstärke verändert. Die Rohheit des Prozesses selbst schafft Musik, die sonst unmöglich zu machen wäre. Sie ist ebenso schön wie seltsam, unwahrscheinlich und unerwartet, absurd und spielerisch, und es ist nicht leicht zu erraten, wer was gemacht hat.

© Eich Records

Es verhält sich in der Tat genau so: Sie ist ebenso schön wie seltsam, unwahrscheinlich und unerwartet, absurd und spielerisch, und es ist nicht leicht zu erraten, wer was gemacht hat. Diese 50 Minuten sind nicht zu fassen oder zu beschreiben. Anschnallen und macht euch bereit auf eine unerwartete Reise. Und Vorsicht, es kann sehr laut werden, Verrückt!

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