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ZeitOnline: Alle Augen auf Brigitte Reimann

50 Jahre nach ihrem Tod wird die leidenschaftliche und exzentrische Schriftstellerin von der Literaturwelt neu entdeckt. Von Carolin Würfel.

Am 20. Februar 1973, um kurz vor Mitternacht, schlief Brigitte Reimann in der Robert-Rössle-Klinik in Berlin-Buch einfach ein. Sie war 39 Jahre alt, genau wie ihr geliebter Frédéric Chopin es war, als er 1849 starb. Und in diesem Alter sterben zu müssen sei schlichtweg „eine Gemeinheit“. Das jedenfalls hatte Reimann ihre Romanheldin Franziska Linkerhand einmal sagen lassen, ohne zu ahnen, dass sie, ihre Erfinderin, das gleiche Schicksal ereilen würde.

Jahrelang hatte Reimann gegen den Krebs in Wirbel und Knochen gekämpft und bis zuletzt gehofft, diesen Körper austricksen zu können. Ihr war das oft genug gelungen. Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, hatte Kinderlähmung überstanden, zwei Fehlgeburten, Fäuste von Männern, die rauen Umstände des Kraftwerks Schwarze Pumpe in Hoyerswerda, wo sie zwischenzeitlich arbeitete, und Brustkrebs mit 35. Doch 1973 musste sie kapitulieren. Es war mehr als eine Gemeinheit.

39 ist einfach zu jung. Ein halbes Leben. Was hätte die Schriftstellerin noch alles produziert, geschrieben, gedacht? Wäre sie, die alle großen Literaturpreise in der DDR gewonnen hatte, dem Staat bis zum Schluss verbunden geblieben, auch wenn die Zweifel in ihren Dreißigern größer und lauter geworden waren? Wäre sie irgendwann doch, wie so viele ihrer Zeitgenossen, abgehauen? Was hätte sie zum Mauerfall gesagt, zur Wiedervereinigung und zur aktuellen Weltlage? Wovon hätte die einstige Idealistin als alte Frau geträumt? Sie könnte heute ja noch am Leben sein. Im Juli hätte sie 90. Geburtstag gefeiert, wahrscheinlich mit reichlich Wodka, den sie so gern trank, und mit lautem Jazz von Sarah Vaughan, die sie – neben Chopin – so liebte.



© ZeitOnline, Literatur, 23.2.2023

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