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NZZ: Locarno Filmfestival -Präsident Marco Solari zum Abschied

Der Arzt sagte zu Marco Solari: „Wenn wir nicht beatmen, stirbst du.“ Solari weigerte sich: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie interessant mein Leben war. Ich schliesse.“ Von Andreas Scheiner.

Vor zwei Jahren überlebte der Präsident des Filmfestivals Locarno nur knapp einen schweren Corona-Verlauf. Jetzt tritt der 79-Jährige kürzer: «Das ist nicht mehr meine Zeit», sagt der scheidende Festivalchef. Die Cancel-Culture befremdet ihn, und als seine grösste Niederlage bezeichnet er, dass Roman Polanski wegen Protesten absagte.

Am Samstag, 12. August, lädt Marco Solari zu einem Filmabend mit 8000 Gästen. Solari wird auf der Piazza Grande in Locarno seinen Lieblingsfilm zeigen. Den Abschlussfilm des 76. Filmfestivals von Locarno, so hat er zum künstlerischen Leiter gesagt, «den werde ich auswählen». Welcher Film das ist, will Solari noch nicht verraten. Vor Filmbeginn, so viel ist kein Geheimnis, wird er ein, zwei Worte sagen (oder auch ein paar mehr, Solari hält sich nicht unnötig kurz). Dann wird er sich von den 8000 Menschen verabschieden und gehen. Und dann wird er gegangen sein.

«Servir et disparaître!», sagte Friedrich der Grosse, und so sagt es auch Marco Solari. Nach fast einem Vierteljahrhundert verlässt der 79-Jährige das Festival, dem er nicht nur als Präsident ab 2000 vorstand. Sondern auch als Gesicht: Wenn die breitere Öffentlichkeit bei andern Festivals jemanden kennt, dann den künstlerischen Leiter. Locarno wird hingegen seit 23 Jahren geprägt vom Presidente. Diesem Urgestein, dessen Abgang einem kulturpolitischen Bergrutsch im Sopraceneri gleichkommt, der weit über das Sottoceneri hinaus ausschlagen wird. Wobei es sich, vollkommen klar, um einen kontrollierten Abgang handelt: Solari hat den Zeitpunkt gewählt. Der Abschied fällt ihm nicht leicht, man hört fast die Zähne knirschen, wenn er davon spricht. Aber er weiss, dass er gehen muss, bevor er versteinert.



© NZZ, Feuilleton, 4.7.2023

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