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„Die Seele des Automaten“ Conlon Nancarrow zum 110. Geburtstag

Conlon Nancarrow (1912-1997) war einer der großen Einzelgänger der Musik des 20. Jahrhunderts. Lange Jahre schuf der gebürtige US-Amerikaner, der wegen politischer Repressalien nach Mexiko emigriert war, seine ausgetüftelten Kompositionen für Selbstspielklaviere jenseits des etablieren Musikbetriebs. Mit Walter Weidringer.

Durch Zufall hat ihn sein damals bereits berühmter Kollege György Ligeti Anfang der 1980er-Jahre wiederentdeckt, nachhaltig ins Rampenlicht gestellt – und durch Nancarrows Arbeiten jene Inspiration empfangen, die ihn aus einer Schaffenskrise befreien konnte.

Ein Pariser Plattenladen, die Garage einer Autobahnraststätte in der Nähe von Solingen, Ligetis Auto und der offensichtlich klar entwickelte Geschmack eines unbekannten Diebes: Ohne das schicksalshafte Zusammenwirken all dieser Komponenten wüsste die Musikwelt vielleicht bis heute nicht, wer Nancarrow war. Dessen Weg zur Musik hatte einst schon steinig begonnen. „This horrible piano teacher I had at the age of four“, sollte Nancarrow sich mit Grausen erinnern: „Naturally, I never learned to play anything.“ Tatsächlich hat dieser eminent originelle Komponist nie wirklich Klavier spielen gelernt – und trotzdem einige der eigentümlichsten Werke des 20. Jahrhunderts für dieses Instrument geschaffen.
Musik, die kein Mensch spielen kann und die dennoch erklingt, real, ohne Zuhilfenahme von Computern. „Studies“ nannte Nancarrow seine durchnummerierte Werkserie für Player Piano, ein automatisches Klavier. „Wenn J. S. Bach statt mit dem protestantischen Choral mit Blues, Boogie-Woogie und lateinamerikanischer Musik aufgewachsen wäre“, schrieb Ligeti im Juni 1980 dem Dirigenten Mario de Bonaventura begeistert, „er hätte wie Nancarrow komponiert, d.h. Nancarrow verkörpert die Synthese amerikanischer Tradition mit der Polyphonie Bachs und der Eleganz Strawinskys – mehr noch: Er ist der bedeutendste Komponist der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Er ist ein Phänomen wie Charles Ives, das im Verborgenen wirkt.“

Ö1, Zeit-Ton, 25.10.2022

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