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Essay: „Erinnern heißt Erhalten“ Das kulturelle Erbe in der klimagestressten Gesellschaft

Von Volker Demuth. Wie lange halten Schlösser, Gärten und Denkmäler dem Klimawandel stand? Mit der steigenden Durchschnittstemperatur wächst auch die gesellschaftliche Aufgabe, das kulturelle gebaute Erbe zu bewahren. Wie kann das bei begrenzten Ressourcen gelingen?



Laut Statistischem Bundesamt gelten in Deutschland 660.000 Gebäude als Baudenkmäler. Hinzu kommen, neben dem immateriellen Kulturerbe, noch Natur- und Gartendenkmäler. Nimmt man zu den baulichen Einzeldenkmälern größere Gebäude-Ensembles und ganze Quartiere hinzu, kommt man auf eine Zahl von ungefähr einer Million denkmalgeschützter Bauwerke. Zusammen bilden sie eine unschätzbare Ressource der Erinnerungskommunikation und gesellschaftlichen Identitätsbildung.

Diese Ressource wird durch die sich verschärfende Klimakrise zunehmend gefährdet. Nicht nur akute Extremwetterereignisse, auch die kontinuierliche Zunahme der Durchnittstemperatur und -feuchtigkeit führen neben bisher ungekannten Phasen extremer Trockenheit zu substanziellen Bedrohungen des gebauten wie des naturalen Kulturerbes. Wo Landschaftsgärten vertrocknen, Naturdenkmäler absterben, Kirchenräume verschimmeln und Fundamente brechen, funktionieren traditionelle Schutzkonzepte nicht mehr.

Doch die sich aufbauende Krise greift tiefer. Denkmäler sind, wie gesagt, Erinnerungssignaturen und damit Objekte einer besonderen gesellschaftlichen Kommunikation. Doch das kollektive Gedächtnis, deren Teil sie sind, besitzt einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext, der abhängig von Relevanzbedingungen und Präferenzbedingungen ist (wie sie auch bei jedem Kommunikationsakt bestehen). Die entscheidende Frage wird daher lauten: Inwiefern wird in Zeiten einer klimatransformatorischen Beschleunigung die Erinnerung ihren sozialen Wert behalten?

Unweigerlich kommt auf uns die Frage zu, ob der Klimastress und die davon ausgelösten Anpassungsanstrengungen überhaupt genügend finanzielle, administrative und psychopolitische Ressourcen übriglassen, um das kulturelle Erbe zu pflegen. Oder ist es nicht vielmehr so, dass ökogestresste Gesellschaften in einem historischen Moment, wo ihr Fortbestehen merklich in Gefahr gerät, alle sozialen und wirtschaftlichen Kräfte darauf verwenden müssen, um ihre Gegenwart und gerade nicht die Verbindungen zur Vergangenheit zu stabilisieren?

Die heute zu beobachtenden Klimaentwicklungen zeigen, dass das Kulturebe ebenso wie Kulturlandschaften dadurch schwerwiegend verändert und geschädigt werden. In der Folge und vor dem Hintergrund des Anthropozän spielt die Notwendigkeit des Erhaltens eine zentrale Rolle. Statt Abriss, Zu- und Neubau muss die Neugestaltung des Bestands in den Mittelpunkt treten. Städte mit expansiver Baudynamik gehören der Vergangenheit an. Und anstelle disruptiver Ideologien brauchen wir eine entschlossene Erhaltungsgesellschaft, nicht nur, um das kulturelle Erbe, sondern um die Zukunft des Lebens insgesamt zu bewahren.

Volker Demuth, geboren 1961, ist Lyriker, Schriftsteller und Essayist. Er studierte in Tübingen und Oxford Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte. Er war Dozent für Medientheorie und Professor für Mediengeschichte und Medientheorie an der Fachhochschule Schwäbisch Hall. Seine Spezialgebiete sind die Theorie der Narrativität sowie die Körper- und Technikgeschichte. Außerdem hat er Hörspiele und Features geschrieben. Zuletzt erschienen der Essay „Mäander“ (2023) sowie „Fossiles Futur. Gedichte“ (2021); „Niederungen und Erhebungen“ (2019); „Der nächste Mensch“ (2018).

© Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 8.9.2024

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