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Essay: „Jenseits von Schuld und Sühne“ Wie Strafe im Recht neu zu denken ist

Von Frauke Rostalski. Gut 44.000 Menschen saßen 2023 in Deutschland im Gefängnis. Sie „verbüßen“ eine Haftstrafe. Aber: Was heißt das eigentlich genau? Immer wieder stellt sich in der Öffentlichkeit die Frage nach dem Sinn und dem Zweck von Haftstrafen.

Welchen Sinn Strafen haben, darüber gehen die Auffassungen von Rechtstheoretikern, aber auch zum Beispiel von Resozialisierungspraktikern weit auseinander. Ist Strafe schlicht die Antwort des Staates auf eine begangene Tat, eine Antwort, die das Unrecht ausgleicht und Recht durchsetzt? Damit würde die Strafe unabhängig von der gesellschaftlichen Wirkung der Haft gedacht. Ist das richtig oder muss man Strafe als reine Abschreckung für andere Täter denken? Dann wird der Täter allerdings ein bloßes Mittel zu einem präventiven Zweck. Soll daher stattdessen die Strafe den Täter oder die Täterin auf den Weg der Besserung bringen? Wenn ja, wäre der Erfolg überschaubar: 44 Prozent der Verurteilten werden nach dem Absitzen der Strafe innerhalb von sechs Jahren rückfällig.
Frauke Rostalski sucht in dieser verzweigten Debatte nach einem neuen, zeitgemäßen Verständnis der Strafe, jenseits von „Schuld und Sühne“. Sie „plädiert“ dafür, dass Strafe eine Kommunikation mit dem Täter oder der Täterin ist. Durch Strafe erhält er oder sie eine Resonanz auf die Tat. Diese ist ihr oder ihm geschuldet, weil er oder sie trotz seiner Straftat weiterhin gleichberechtigtes Mitglied der rechtsstaatlichen Gemeinschaft ist. Ein solches Verständnis lässt sich daher besser als andere Theorien mit den Vorgaben eines freiheitlichen Rechtsstaats, in welchem stets das Individuum im Mittelpunkt zu stehen hat, in Einklang bringen.


Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln. Zuletzt sind von ihr die Bücher „Der Tatbegriff im Strafrecht“ (2019) und – vielbeachtet – „Die vulnerable Gesellschaft – Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“ (2024) erschienen. Seit 2020 ist sie zudem Mitglied des Deutschen Ethikrats.



© Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 18.8.2024

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