Für viele ein Superstar, für andere eine Verräterin: Einst war die Künstlerin Marina Abramović für ihre blutigen Aktionen berühmt, jetzt umarmte sie in London die Menschen mit ungeahnter Sanftmut. Die Geschichte einer Verwandlung.
Von Hanno Rauterberg
Nein, sie blutet nicht. Sie hat sich nicht mit einer Glasscherbe ein Pentagramm in den Bauch geritzt. Hat sich nicht an den Haaren gerissen, ist nicht mit voller Wucht gegen die Wand gelaufen, wieder und wieder. Musste sich nicht mit dem Messer in die Hand stechen. Und geschrien, so lang und laut, bis ihr die Stimme versagt, hat sie dieses Mal auch nicht. Eigentlich hat Marina Abramović, die berühmteste und wohl auch unerbittlichste aller Performance-Künstlerinnen, in diesem Sommer rein gar nichts getan. Und doch sei sie noch niemals erschöpfter gewesen als jetzt, sagt sie, erschöpft von einem schier endlosen Nichts.
„Ich bin so froh“, sagt sie, auf ihrem Stuhl zusammengesunken, die schwarzen Haare straff zurückgebunden, „ich bin so froh, dass es jetzt vorüber ist.“ Immer wieder wird sie sich im Gespräch mit beiden Händen über Stirn und Wangen fahren, ein Streicheln, eine Selbstermunterung. Sie hat alles gegeben, wie es schon immer ihre Art war. „Ich habe zwölf Kilo abgenommen“, sagt sie und schaut dabei nicht mehr ganz so müde aus. Sie lächelt sogar, das mädchenhaft kecke Lächeln einer 67-Jährigen….
© DIE ZEIT Nr. 36/2014, 28. August 2014