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Release Tipps: Elektronische Spielweisen

Neues von Hilde Marie Holsen, Honest John, Josh Mason und Siavash Amini. Elektronik ist aus der heutigen Musikszene nicht mehr wegzudenken. Ein Laptop auf der Bühne ist schon fast ein alter Hut, auch elektronische Effektgeräte gehören in vielen Genres zum Standard. Insofern passen die ausgewählten Veröffentlichungen sehr gut zusammen. Mehr oder weniger.


Hilde Marie Holsen – Ediacara / Pelun

Ediacara von Hilde Marie Holsen ist eine eindrucksvolle Suite aus drei zusammenhängenden Sätzen, die jeweils nach einer geologischen Epoche von vor bis zu einer halben Milliarde Jahren benannt sind und von Holsen selbst komponiert, aufgeführt und produziert wurden. Alle Klänge – sowohl akustische als auch elektronisch verarbeitete – werden in Echtzeit improvisiert und entstammen den verschiedenen Ressourcen von Holsens Trompete. Was wie das Dröhnen einer Glasharmonika, das Plätschern von Streichern, ein düsterer Choral oder – am beunruhigendsten – der schnarrende Rhythmus eines Trüffelschweins klingt, ist nichts anderes als Atem und Blech.

Wie immer handelt es sich um Live-Improvisationen mit Trompete und deren Live-Bearbeitung“, sagt Holsen, die in Jolster, im Westen Norwegens, geboren wurde. „Es werden keine Sounds im Voraus aufgenommen und es gibt keine Overdubs im Nachhinein, alles passiert im Moment“. Nach Ask, ihrem Debütalbum aus dem Jahr 2015, und dem Nachfolger Lazuli aus dem Jahr 2018 (beide auf dem Label Hubro erschienen), stellt das neue Album – gemischt von Stian Westerhus und gemastert von Helge Sten – sowohl eine Verfeinerung als auch eine Erweiterung ihrer bisherigen Praxis dar. Durch das Sampling und die Wiederverwendung des gesamten Repertoires möglicher Geräusche ihres Instruments, ob geblasen oder perkussiv, beschwört Ediacara eine Klangsinfonie herauf, deren Gewicht und Dichte an den „organisierten Klang“ von Edgard Varèse oder die bahnbrechende musique concrete von Pierre Henry erinnern kann. Und wenn sie die Trompete wie eine Trompete spielt, sind ihre reinen, lang gehaltenen Töne so eindringlich und ausdrucksstark wie bei jedem anderen erstklassigen Co-Instrumentalisten, den man sich vorstellen kann.


Hilde Marie Holsen

Das Ergebnis ist typisch streng und doch sinnlich, mit harten Schlagzeugmustern, die meditativen, luftigen Drones weichen und sich dann wieder verändern, wenn sich der Fokus sozusagen von der Nahsicht zur Fernsicht oder umgekehrt verschiebt. Jeder der drei Sätze übt seinen eigenen Zauber aus, und obwohl die Gesamtheit sehr abwechslungsreich ist, gibt es eine befriedigende Kontinuität. Alles scheint in ständigem Fluss zu sein, sich ständig zu verändern und zu werden, ohne dass ein Ende in Sicht ist, sondern nur eine unaufhörliche Entwicklung. Wie ein Echo auf eine allmähliche Evolution, deren eisige Veränderungsgeschwindigkeit im Zeitraffer zu sehen ist, können ganze Klangepochen in einer Minute vorbeifliegen.
„Die Titel stehen für verschiedene geologische Zeitabschnitte – Ediacaran, Kambrium, Ordovizium -, die aufeinander folgten, und sie beziehen sich darauf, wie verschiedene Organismen mit Klimaveränderungen und dem Entstehen und Auseinanderbrechen verschiedener Kontinente entstehen und aussterben“, sagt Holsen. „Es ist ein inspirierendes Bild dafür, wie meine Klänge entstehen und sich verwandeln, und es ist auch für die Zeit, in der wir heute leben, relevant: Das Kambrium überschneidet sich mit dem Ordovizium, in dem es immer wärmer wurde, was zu einem Anstieg des Meeresspiegels führte, und der Zeitraum war durch ein extrem heißes globales Klima gekennzeichnet. Das Titelbild, das von Kristine Knapstad gestaltet wurde, ist ein Fossil.

Wie bei Holsens vorherigem Album Lazuli, das sich von den Mineralien inspirieren ließ, die zur Herstellung der Pigmente einer Malerpalette verwendet werden, bietet diese geologische Perspektive sowohl einen konzeptionellen Rahmen für dringende Umweltbelange als auch eine treffende Metapher für die unerbittliche Entwicklung ihrer Klangmethodik. Die thematische Integrität und die schwer errungene klangliche Anmut von Ediacara bestätigen Hilde Marie Holsen als eine der wichtigsten neuen Stimmen der zeitgenössischen Musik, ob aus Norwegen oder anderswo. © Text: Label



HONEST JOHN – Sweet Travels / Particular Recordings

Seit ihrer Gründung im Jahr 2012 ist Honest John das geistige Kind des Bläsers und Komponisten Klaus Ellerhusen Holm. Die Band hatte schon immer eine Vorliebe für leicht schräge und ungewöhnliche Musik und hat keine Probleme, gegen den Strom zu schwimmen. Inspirationen aus der holländischen Jazzszene und von Musikern, die mit dem ICP-Orchester verbunden sind, waren früher wichtige Inspirationsquellen, aber jetzt steht die Musik selbstbewusst für sich selbst und ist größtenteils wie sie selbst.
Auf unserem vierten Album bringen wir unter anderem Elemente der Mikrotonalität, Vintage-Drum-Machine von 1969 sowie die Tatsache ein, dass viele der Songs auf asymmetrischer Wiederholung aufgebaut sind.


HONEST JOHN

Die Dinge werden wiederholt, aber nie in derselben Länge. Ansonsten wird die Musik in enger Zusammenarbeit mit den Musikern entwickelt und um deren musikalische Persönlichkeiten herum aufgebaut. Honest John veröffentlicht nun ihr viertes Album Sweet Travels. Diesmal auf dem norwegischen Label Particular Recordings Collective in Trondheim. Die Aufnahmen begannen 2020, wurden aber aufgrund der Pandemie und anderer unvorhergesehener Probleme immer wieder verschoben.

Aber jetzt ist das Album endlich fertig! Zusätzlich zu den CDs als physisches Format haben sie auch handgefertigte Lithografien des dänischen Künstlers Zven Baslev gedruckt. © Text: Label



Josh Mason – An Anxious Host / Students of Decay

Seit den frühen 2010er Jahren hat Josh Mason langsam eine bezaubernde Diskografie aufgebaut und Aufnahmen auf Labels wie Florabelle, Dauw, Longform Editions und seinem eigenen Imprint Sunshine Ltd. veröffentlicht. Egal, ob er sich auf die E-Gitarre oder den modularen Synthesizer konzentriert, Mason nähert sich seiner Musik mit Zielstrebigkeit, Zärtlichkeit und einem scharfen Ohr für Details, was zu einem außergewöhnlichen und dauerhaften Oeuvre führt.

Seine handwerkliche Herangehensweise und sein monomanisches Interesse an der Schaltungsentwicklung gipfelten 2021 in Utility Music, einem gewaltigen Buch/CD-Projekt, das die jahrelange Erforschung eines Doepfer A-100 Eurorack-Systems dokumentiert und auspackt. Die Ironie eines solchen Projekts besteht darin, dass es den Hörer zu der Annahme verleiten könnte, dass akademische Technik und Synthesetechnologie die treibenden Prinzipien seiner Praxis sind, aber in Wirklichkeit ist dies nur ein Teil der Geschichte. Wenn man sich Masons Musik anhört, hat man das Gefühl, dass er sich wie ein guter Romancier wirklich um seine Figuren kümmert, die die Form von Texturen und Klangfarben archaischer Wavetable-Oszillatoren, eigenwilliger Filter, pulverisierter Samples und exotischer Geräuschquellen annehmen.


Josh Mason

An Anxious Host fühlt sich wie eine zentrale Veröffentlichung in Masons Katalog an. Es ist seine erste Veröffentlichung auf Vinyl seit dem erstaunlichen Coquina Dose von 2019, und es ist vielleicht das prägnanteste und stärkste Album, das er je gemacht hat. Die Titel der Tracks funktionieren wie Regieanweisungen in einem Theaterstück und deuten eine verschwommene, filmische Erzählung an, die von Intriganten, Träumern und verlorenen Seelen bevölkert wird. Wie immer bei Mason steht der Ort im Vordergrund, und dieses Album ist durch und durch von der Feuchtigkeit, der Wärme und der Endzeitstimmung des Staates Florida durchdrungen. Meeresrauschen und versunkene Melodien; sumpfige, stotternde Loops; klangliches Treibgut, das sich sammelt und ausströmt und den Hörer zum Eintauchen einlädt. © Text: Label



Siavash Amini – Eidolon / Room40

Wenn man Stimmungsverfahren versteht und in die Unendlichkeit mikrotonaler Kompositionsstrategien eintaucht, kann man sich einen Sinn für Musikalität vorstellen, der weit über die vertrauten Harmonien des westlichen Gehörs hinausgeht.
Der iranische Komponist Siavash Amini, ein bekennender Stimmungsbesessener, hat einen Großteil seiner musikalischen Untersuchungen im letzten halben Jahrzehnt der Entschlüsselung neuer Beziehungen zwischen harmonischen Ereignissen gewidmet. Darüber hinaus hat er auch nach neuen klanglichen Beziehungen gesucht und dabei eine besondere Klangästhetik entwickelt, die zunehmend eindringlicher und spektraler Natur ist. Aminis Musik ist vertikal, sie offenbart sich auf unerwartete Weise und verlangt dem Hörer eine gewisse auditive Verfügbarkeit ab. Eidolon geht weiter als jede andere Komposition, die er vollendet hat. Es schafft eine konturierte Klanglandschaft, die zu gleichen Teilen schön und überwältigend ist. © Text: Label


Siavash Amini

Siavash Amini zu der Arbeit an der Musik von Eidolon:

Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin besessen von Safi-al-din Urmavis Theorie der Stimmung, des Rhythmus und des Maqam. Es begann in meinem letzten Jahr an der High School. Damals gab es viele Diskussionen zwischen iranischen Musikwissenschaftlern über seine 17-Ton-Skala und darüber, ob sie für die iranische Musik der damaligen Zeit von Nutzen oder relevant sei. Im letzten halben Jahrzehnt habe ich viel über diese Diskussionen und allgemeinere Diskussionen über die Stimmung im Maqam-System des 13. Jahrhunderts nachgedacht.

Ich wusste nicht, wie ich mich diesen Stimmungen nähern sollte, aber ich fing an, ein Gefühl dafür zu bekommen, während ich A Trail of Laughters machte und beschloss, dass die Relevanz dieser Stimmungen nicht mit konventionellen Instrumenten und Kompositionstechniken erforscht werden konnte. Ich möchte mich ihnen auch nicht in einem historischen Sinne nähern. Ich möchte sie als Rohmaterial verwenden und meinen Ansatz finden, indem ich Anleihen bei der experimentellen und elektronischen Musik unserer Zeit mache. Die Erscheinung, ein Bild, das auftaucht und verschwindet, das in einem Augenblick Gestalt annimmt und im nächsten verschwindet, etwas, von dem man nicht sicher ist, ob man es gesehen hat, braucht einen besonderen Rahmen, um erlebt zu werden.

Etwas, das in einem unbestimmten Raum gesehen oder gefühlt wird, wie die Zeichnungen von Redon. Ich habe versucht herauszufinden, ob diese Stimmungssysteme (vor allem Urmavis 17-Ton-Skala) ein Ausgangspunkt sein könnten, um einen solchen Raum für mich selbst zu schaffen, indem ich ihre Frequenzen und Intervalle übereinander rollen lasse und die daraus resultierenden Klänge und Texturen schweben, krachen, überlaufen und auslaufen lasse. Vielleicht können meine anderen Obsessionen, nämlich Dunkelheit, Licht und Tod, in diesem schattenhaften, unbestimmten Raum zumindest in gewisser Weise betrachtet werden, und vielleicht macht sich hier und da etwas bemerkbar.






Von allen vorgestellten Veröffentlichungen hat mich die von Hilde Marie Holsen am meisten und nachhaltigsten beeindruckt. Was sie aus Atem und Blech (Trompete) und durch den gekonnten und einfallsreichen Einsatz von Elektronik und Live-Sampling an Klängen zu zaubern vermag, ist verblüffend. Und wir hören das alles 1 zu 1, weil nichts nachträglich verändert wurde. Das setzt eine großartige Technik und ein Wissen um die Möglichkeiten der Trompete voraus, die man nur durch langes intensives Proben erlangen kann. Die erzeugten Klanglandschaften sind dicht, wenn auch atmosphärisch, und bieten eine mehr als spannende Reise durch geologische Epochen. Kurz: Herausragend

Die Musik von Honest John war dagegen schon eine andere Herausforderung. Ein Vintage Drumcomputer aus dem Jahr 1969, ein Banjo, dazu Akkordeon, Bass, Schlagzeug und Saxophone, das ist schon eine ziemlich schräge Konstellation. Elemente aus der Mikrotonalität, Einflüsse aus seltsamen Country- und Bluegrassmelodien zusammen im Jazzkontext, das muss man erst mal zum Klingen bringen. Diese Mischung, die uns die Frontmänner Holm und Moberg da zubereitet haben, will verdaut werden.

Eine positive Überraschung war die Entdeckung von Josh Mason. Bei jedem Hören habe ich mehr von seinen kleinen, nuancierten Ideen entdeckt, die auf wundersame Weise vertraut klingen. Auch wenn ich ein wenig Aphex Twin aus seinen frühen Jahren höre, ist das, was uns hier erwartet, etwas ganz Besonderes.


Mit sanften Synthesizern, seltsamen, gesampelten Rhythmen und ausgefransten, zerkleinerten Texturen zaubert Mason eine wirkungsvolle Klanglandschaft, die er über die gesamte Platte hinweg kohärent hält, wobei er das Tempo, nicht aber die Stimmung variiert. Es ist in vielerlei Hinsicht nostalgische Musik, die aber nicht veraltet klingt. Mason verwendet vertraute Verfahren (man denke an Shuttle358 oder Jan Jelinek in der falschen Geschwindigkeit), erzählt aber eine ganz eigene Geschichte.

– Boomkat

Die Entwicklung von Siavash Amini zu verfolgen ist eine Geschichte für sich und jede seiner Veröffentlichungen ist etwas Besonderes. Das klingt vielleicht etwas übertrieben, aber für mich ist es so. Seine Sounds sind sehr speziell und der intellektuelle Überbau auch. Seine Soundlandschaften sind nie bequem oder leicht. Sie haben eine gewisse Schwere, ohne einen zu erdrücken. Aber sie können auch etwas Berauschendes, Erhabenes vermitteln. Man merkt, es ist etwas ganz Besonderes, was natürlich auch mit seiner Beschäftigung mit arabischer Musik zu tun hat. Man wird nichts Vergleichbares finden oder hören. Übrigens wurde er mal als „iranischer Brian Eno“ bezeichnet. Ich weiß nicht, wer auf so einen Blödsinn kommt. Ich würde mich freuen, wenn Eno mal so klingen würde 😉

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