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Spotify: Wer will schon hören, dass er ignorant ist?

Algorithmen liefern uns, was wir vermeintlich wollen. Ein neuer Mechanismus bei Spotify verstärkt die Selbstbestätigung noch. Braucht es ein Comeback der Popkritik?

Von Konstantin Nowotny

Es mag nicht der beste Auftakt für eine Musikkolumne sein, aber eigentlich ist es doch so: Texte über Musik – Kritiken gar! – braucht im Jahr 2020 kein Mensch mehr. Alles ist verfügbar, und selbst Kleinkinder wissen, wie sie YouTube zu bedienen haben. Fehlkäufe gibt es beim Streaming nicht. Unnötig die Schlaumeier, die mit ihrem erlesenen Geschmack zu wissen glauben, was man mögen soll. Längst wissen die Algorithmen tausendmal besser, was einem gefällt. Oder nicht?

Der weltweit größte Audio-Streaming-Anbieter Spotify kündigte kürzlich an, Künstlern ein Stück mehr vom algorithmischen Kuchen zu verschaffen. Sie müssten lediglich etwas von ihren Tantiemen abgeben und könnten sich damit in die begehrten Playlists einkaufen. Playlists spielen bei Spotify eine sehr wichtige Rolle. Hat ein Nutzer das neueste Coldplay-Album zu Ende gehört, denkt der Automatismus weiter. 

Hätte ich mit 13 Jahren einen Empfehlungs-Algorithmus wie den von Spotify gehabt, dann würde ich wahrscheinlich noch immer Musik hören, die wie Silbermond klingt. Ich würde wahrscheinlich The Voice of Germany schauen und wäre ganz entzückt, dass dort Juroren, die Musik wie Silbermond machen, ganz entzückt sind von jungen Künstlern, die diese Musik nachsingen, damit am Ende alle gemeinsam Musik wie Silbermond machen können, um diese dann ganz zufällig kurz vor Weihnachten auf einer entzückenden Kompilation herauszubringen. Ich wäre ganz taub und mit meiner Ignoranz zufrieden, und ich würde ganz sicher keine Popkritiken lesen wollen, die mir sagen, dass ich ganz taub und ignorant bin, und die etwas über Musik erzählen, die so anstrengend, so anders klingt.

Ich bin sehr froh, dass es anders gekommen ist.



© der Freitag, Kultur, Ausgabe 47/2020


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