Der Weg zur „Romanmaschine“ – Der Goncourt-Preisträger Hervé Le Tellier startet durch
Hervé Le Tellier ist der Goncourt-Preis-Träger, mit dem 2020 in Paris niemand gerechnet hatte. Als Mitglied des Oulipo, der „Werkstatt für potentielle Literatur“, befolgt er freiwillig Formzwänge, schreibt aber nur, was er selbst lesen will. Von Christoph Vormweg.
Langeweile ist Hervé Le Tellier ein Graus. Deshalb hat er seinen preisgekrönten Roman „Die Anomalie“ als „page-turner“ angelegt. Mit jeder Figur zaubert er eine neue Gattung aus dem Hut: Thriller, Liebesroman, Science-Fiction, Krebsdrama … . Der Plot: Eine Boeing landet 2021 nach schweren Turbulenzen im Abstand von 106 Tagen zweimal in New York. An Bord sind dieselben Passagiere.
Das Fundament des Romans ist eine Spekulation des schwedisch-englischen Philosophen und Physikers Nick Bostrom: Unser Dasein sei möglicherweise nur eine Computersimulation. Hervé Le Tellier bastelt daraus eine Parodie auf die Regierenden dieser Welt und ein tragikomisches Spiel. Denn fast alle Figuren begegnen ihrem Doppelgänger: Der eine hat 106 Tage mehr, der andere 106 Tage weniger Lebenserfahrung.
45 Übersetzungen zeugen vom Welterfolg der „Anomalie“. Eigens wurde ein „Übersetzer-Syndikat“ gegründet, um den geheimen, selbst gesetzten oulipotischen Formzwängen gerecht zu werden und die verdeckten literarischen Querverweise zu entschlüsseln. Ein Zufall ist es jedenfalls nicht, dass Hervé Le Tellier allein in Frankreich über eine Million Leser und Leserinnen fand. Seine abgründig süffisanten Liebesromane, seine Sprachexperimente, seine uferlosen Lektüren: Alles war jahrzehntelange Vorarbeit.
Der Weg zur „Romanmaschine“ – Der Goncourt-Preisträger Hervé Le Tellier startet durch
Von: Christoph Vormweg
Redaktion: Imke Wallefeld
Produktion: WDR 2022
© WDR 3, Kulturfeature, 11.9.2022